Leitsatz (amtlich)

›1. Die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten sind je nach Verfahrensart und Verfahrenslage unterschiedlich. Neben der Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstands und dem jeweiligen Verfahrensstand kommt es darauf an, in welchem Ausmaß der Angeklagte aufgrund seiner Erkrankung beeinträchtigt ist, die ihm in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten wahrzunehmen.

2. Eine Erkrankung kann den Angeklagten auch dann im Sinne des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO genügend entschuldigen, wenn sie nicht zur Verhandlungsunfähigkeit führt.‹

 

Verfahrensgang

LG Ellwangen (Entscheidung vom 24.01.2006; Aktenzeichen 3 Ns 23 Js 7022/03)

AG Heidenheim (Aktenzeichen 2 Ls 23 Js 7022/03)

 

Gründe

Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten, mit der er sich gegen seine Verurteilung durch das Amtsgericht Heidenheim wendete, verworfen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten beanstandet die Verletzung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO zu Recht.

I.

Nach den Feststellungen blieb der Angeklagte der Berufungsverhandlung am 24. Januar 2006 fern, nachdem er dem Landgericht drei Atteste - ausgestellt von seinem Hausarzt , dem Zahnarzt und dem Neurologen - vorgelegt hatte. Der Hausarzt bescheinigte dem Angeklagten unter dem 20. Januar 2006, er sei am 24. Januar 2006 verhandlungsunfähig, da eine Vereiterung des gesamten Ober- und Unterkieferbereichs zu allgemeiner Schwäche, Essunfähigkeit, Schluck- und Sprechproblemen führe und mit der chronischen Erkrankung sowie dem reduzierten Allgemeinzustand des Angeklagten zusammenwirke. Der Neurologe attestierte am 23. Januar 2006 für den Folgetag ebenfalls Verhandlungsunfähigkeit, weil der Angeklagte schmerzgeplagt und wegen der entzündlichen bewegungseingeschränkten Mund-Kiefer-Region kaum in der Lage sei, zu sprechen. Nach dem Attest des Zahnarztes war der Angeklagte im Zeitraum vom 17. bis zum 27. Januar 2006 arbeitsunfähig.

Die Strafkammer hat die Entschuldigung als nicht ausreichend erachtet. Sie hat vor dem Hintergrund des langwierigen Berufungsverfahrens - beim 24. Januar 2006 handelte es sich um den 4. Verhandlungstermin - angenommen, der Angeklagte versuche "seine chronischen Grunderkrankungen zusammen mit den akuten gesundheitlichen Beeinträchtigungen gezielt dazu einzusetzen, das Verfahren zu verschleppen". Er sei nicht verhandlungsunfähig, weil bei der Teilnahme an einer Hauptverhandlung keine Lebensgefahr oder schwerwiegende Dauerschäden zu befürchten seien. Da die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt gewesen sei und die Sitzung nur etwa 1 1/2 Stunden gedauert hätte, sei es ihm trotz seiner chronischen Grunderkrankung und der hinzukommenden akuten Erkrankung möglich und zumutbar gewesen, zu erscheinen.

II.

Das Landgericht hat bei der Beurteilung der Frage, ob der Angeklagte verhandlungsunfähig war, einen unzutreffenden Maßstab angelegt und dadurch an den Begriff der genügenden Entschuldigung im Sinne von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO überhöhte Anforderungen gestellt.

1. Verhandlungsfähigkeit bedeutet, dass der Angeklagte in der Lage sein muss, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Form zu führen, Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (BVerfG NStZ-RR 1996, 38; BGH NStZ 1996, 242; Pfeiffer in KK-StPO 5. Aufl. Einl. Rn 126 m. w. N.).

Die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit entziehen sich einer pauschalen Festlegung; sie sind je nach Verfahrensart und Verfahrenslage unterschiedlich. Steht die Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit in den Tatsacheninstanzen in Rede, können sie nicht niedrig bemessen werden, weil die Einlassung des Angeklagten wesentliches Beweismittel ist, er selbst Anträge stellen und Zeugen befragen kann, vor Entscheidungen des Gerichts neben seinem Verteidiger gehört wird sowie sich persönlich - etwa zu strafzumessungserheblichen Umständen und im letzten Wort - äußern kann. Diese Rechte geben ihm die Möglichkeit, das Verfahren unabhängig von der Verteidigung mitzugestalten und sich zu verteidigen (BGH NStZ 1996, 242); sie können durch gesundheitliche Beeinträchtigungen in unterschiedlichem Umfang tangiert werden.

Ebenso wenig wie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung automatisch die Verhandlungsunfähigkeit einschließt, führt nicht jede Erkrankung zur Verhandlungsunfähigkeit eines Angeklagten. Bei der Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit kommt es nicht allein auf die medizinische Schwere einer Gesundheitsstörung an. Entscheidend ist vielmehr, in welchem Ausmaß eine Erkrankung die einem Angeklagten in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Des weiteren hat das Gericht die Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstands und den jeweiligen Verfahrensstand in seine Beurteilung einzubeziehen (BGH StV 1989, 239, 240; Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 205 Rn 14 a, 15; Julius in HK-StPO 3. Aufl. § 205 Rn 4). Gleiches gilt, wenn ein Angeklagter im Strafbefehlsverfahren (vgl. § 412 ...

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