Leitsatz (amtlich)
1. § 44 Abs. 4 Satz 2 ZPO, demgemäß ein Ablehnungsgesuch unverzüglich anzubringen ist, setzt voraus, dass sich die Partei bei dem abgelehnten Richter in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat.(Rn. 18)
2. Eine Entscheidung des Beschwerdegerichts in der Sache über ein in der Vorinstanz als unzulässig verworfenes Ablehnungsgesuch ist - falls das Beschwerdegericht eine Besorgnis der Befangenheit für begründet hält - ohne Zurückverweisung möglich, auch wenn das Ablehnungsgesuch zu Unrecht unter Mitwirkung des abgelehnten Richters als unzulässig verworfen wurde(Rn. 26) und - falls das Beschwerdeverfahren gemäß § 568 Satz 2 ZPO auf den Spruchkörper in voller Besetzung übertragen wurde - auch wenn beim Landgericht nicht die Kammer, sondern allein der abgelehnte Einzelrichter selbst entschieden hat.(Rn. 28)
3. Zur Besorgnis der Befangenheit bei einem Richter, der im Ablehnungsverfahren seine dienstliche Äußerung viele Monate später unaufgefordert mit einer Stellungnahme zu einem die Besorgnis seiner Befangenheit in einem Parallelverfahren mit einem gleichgelagerten Befangenheitsgesuch für begründet erklärenden Beschluss ergänzt, dabei eine als Grundlage für die Entscheidung ersichtlich nicht geeignete Tatsache mitteilt und sich zur Ordnungsgemäßheit der Prüfung des beschiedenen Befangenheitsgesuchs äußert.(Rn. 54)
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; ZPO § 42 Abs. 2, § 44 Abs. 3, 4 S. 2, § 538 Abs. 1, 2 Nr. 3, § 568 S. 2
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Beschluss vom 26.10.2020; Aktenzeichen 3 O 253/20) |
Tenor
1. Zitierung zu Leitsatz 1: Anschluss OLG Braunschweig, Beschluss vom 31. August 2020 - 9 W 21/20.(Rn. 18)
2. Zitierung zu Leitsatz 2: Anschluss OLG Frankfurt, Beschluss vom 8. Februar 2012 - 1 W 5/11.(Rn. 26)
3. Im Zusammenhang mit einer Richterablehnung hat sich die dienstliche Äußerung des Richters auf die Tatsachen zu beziehen, die der Ablehnende zur Begründung seines Ablehnungsgesuchs vorgetragen hat. Ausführungen zur Begründetheit des Ablehnungsgesuchs haben zu unterbleiben (Anschluss BGH, Beschluss vom 21. Februar 2011 - II ZB 2/10).(Rn. 45)
4. Ergänzt ein Richter seine dienstliche Äußerung im Ablehnungsverfahren viele Monate später unaufgefordert mit einer Stellungnahme zu einem die Besorgnis seiner Befangenheit in einem Parallelverfahren mit einem gleichgelagerten Befangenheitsgesuch für begründet erklärenden Beschluss, wobei er dabei eine als Grundlage für die Entscheidung ersichtlich nicht geeignete Tatsache mitteilt und sich zur Ordnungsgemäßheit der Prüfung des beschiedenen Befangenheitsgesuchs äußert, gibt dies Anlass zu berechtigten Zweifeln an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des abgelehnten Richters.(Rn. 55)
Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten werden der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 26. Oktober 2020, Az. 3 O 253/20,
aufgehoben
und das Gesuch der Beklagten auf Ablehnung des Richters am Landgericht [..] wegen Besorgnis der Befangenheit
für begründet erklärt.
Gründe
I. Die Parteien streiten in der Hauptsache über Ansprüche wegen eines etwaigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung in ein Dieselfahrzeug.
Der zuständige Einzelrichter des Landgerichts ist auch für diverse Parallelverfahren zuständig, in denen die Beklagte wegen unzulässiger Abschalteinrichtungen in Anspruch genommen werden soll. Am 13. November 2019 führte er einen "Sammeltermin" zu 21 dieser Verfahren durch (führendes Az.: 3 O 254/18), woraufhin ihn die Beklagte in den betreffenden Verfahren wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnte und der Einzelrichter hierzu im Dezember 2019 eine dienstliche Äußerung abgab. In einem anderen Parallelverfahren, Az.: 3 O 57/20, erklärte ein Senat des Oberlandesgerichts Stuttgart mit Beschluss vom 1. Juli 2020 ein Ablehnungsgesuch der Beklagten gegen ihn für begründet (Az.: 16a W 3/20, juris). Der Einzelrichter gab daraufhin am 5. Juli 2020 eine "Erweiterte dienstliche Äußerung iSv. § 44 Abs. 3 ZPO" zu dem Verfahren 3 O 254/18 sowie den "dazu verbundene[n] Rechtsstreite[n]" ab.
Im vorliegenden Verfahren ordnete der Einzelrichter mit Verfügung vom 15. Juni 2020 das schriftliche Vorverfahren an.
Sodann lehnte die Beklagte ihn vorliegend mit Schriftsatz vom 10. August 2020 wegen Besorgnis der Befangenheit aufgrund verfahrensübergreifender Ablehnungsgründe ab. Sie hat dies im Wesentlichen wie folgt begründet:
Der abgelehnte Richter habe in 21, teils vor der 3. Zivilkammer und teils vor der 22. Zivilkammer anhängigen Klageverfahren zu einem medienwirksam inszenierten Sammeltermin am 13. November 2019 geladen und trotz im Termin erhobener und wegen zwingender Kammervorlage begründeter Besetzungsrügen in rechtswidriger Weise die Verfahren überraschend zu dem Verfahren 3 O 254/18 verbunden und damit versucht, vollendete Tatsachen zu schaffen und ihr die gesetzlichen Richter der 22. Zivilkammer, die ihm kritischer gegenüberstünden, zu entziehen.
Der abgelehnte Richter sei zuvor schon von der 22. Zivilkammer in sämtlichen die Volkswagen AG betreffen...