Leitsatz (amtlich)
1. Hat in einem Unterhaltsverfahren ein Beteiligter seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland, so ist das bezüglich der örtlichen Zuständigkeit des Amtsgerichts bestehende Spannungsverhältnis zwischen Art. 3 lit. b EuUntVO und § 28 AUG gemäß der Rechtsprechung des EuGH durch eine Prüfung im Einzelfall aufzulösen (EuGH, FamRZ 2015, 639 Rn. 47).
2. Aufgrund der höheren Sachkunde der Konzentrationsgerichte, die zur Verwirklichung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege und zum Schutz der Interessen eines Unterhaltsberechtigten beiträgt (EuGH, FamRZ 2015, 639 Rn. 45), ist im Regelfall die örtliche Zuständigkeit der Konzentrationsgerichte gemäß § 28 Abs. 1 AUG begründet. Hiervon ist nur in besonders gelagerten Fällen abzuweichen, wenn die geordnete Rechtsdurchsetzung und die Interessen der Beteiligten eine Zuständigkeit des Aufenthaltsgerichts nahelegen.
3. Auch in Auslandsunterhaltsverfahren, in denen es um Kindesunterhalt geht und in denen deutsches Recht anzuwenden ist, bedarf es zur Lösung der dort häufig auftretenden Rechtsfragen einer besonderen Sachkunde.
4. Bei der vorzunehmenden Einzelfallprüfung fällt ins Gewicht, wenn der Unterhaltsberechtigte selbst auf den ihm durch Art. 3 lit. b EuUntVO gewährten räumlichen Vorteil verzichtet, indem er bewusst seinen Antrag bei dem weiter entfernten Konzentrationsgericht einreicht.
5. Der Vorteil der räumlichen Nähe verliert an Gewicht, wenn keine Privatperson, sondern - aufgrund einer Legalzession - eine Behörde den Unterhaltsanspruch geltend macht.
Normenkette
AUG § 28; EuUntVO Art. 3 lit. b
Verfahrensgang
AG Stuttgart (Beschluss vom 24.11.2020; Aktenzeichen 21 F 1448/20) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Stuttgart vom 24.11.2020, Az. 21 F 1448/20, und das Verfahren aufgehoben.
Die Sache wird an das Amtsgericht Stuttgart zurückverwiesen.
2. Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen.
3. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der amtsgerichtlichen Entscheidung vorbehalten.
4. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 16.257,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. 1. a) Gegenstand des Verfahrens ist die Geltendmachung von übergegangenen Unterhaltsansprüchen in einem Auslandsunterhaltsfall.
Der Antragsgegner ist der Vater der Kinder D... S..., geb. ...2009, und N... S..., geb. ...2005, beide wohnhaft in Reutlingen. Der Antragsgegner hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Italien.
Der Antragsteller hat für das Kind D... im Zeitraum vom 01.05.2018 bis 30.09.2020 und für das Kind N... im Zeitraum vom 01.08.2019 bis 30.09.2020 Leistungen nach dem UVG erbracht.
Der Antragsteller macht gegen den Antragsgegner Ansprüche aus übergegangenem Recht gemäß § 7 UVG geltend.
Das Amtsgericht Stuttgart hat den Antragsteller mit Verfügung vom 28.09.2020 darauf hingewiesen, dass es davon ausgeht, dass nicht das Amtsgericht Stuttgart, sondern das Amtsgericht Reutlingen örtlich zuständig ist.
Der Antragsteller hat seinen Antrag aufrechterhalten.
b) Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 24.11.2020 den Antrag des Antragstellers als unzulässig verworfen.
Das Amtsgericht geht davon aus, dass keine örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Stuttgart als Konzentrationsgericht gemäß § 28 AUG vorliege, da diese Vorschrift im Spannungsverhältnis zu Art. 3 lit. b EuUntVO stehe, wonach das Amtsgericht am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Unterhaltsberechtigten örtlich zuständig sei. Vorliegend sei deutsches Unterhaltsrecht anwendbar, so dass es keiner Kenntnis des ausländischen Unterhaltsrechts bedürfe. Das Konzentrationsgericht sei weiter vom gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers entfernt als das Amtsgericht Reutlingen. Eine effektivere Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen würde durch eine Verhandlung beim Konzentrationsgericht Stuttgart gerade nicht begünstigt.
Im Übrigen dürfte es nach Auffassung des Amtsgerichts schon an der internationalen Zuständigkeit nach Art. 3 lit. b EuUntVO für die Unterhaltsvorschusskasse als eine öffentliche Aufgaben wahrnehmende Einrichtung fehlen. Der BGH habe mit Beschluss vom 05.06.2019 dem EuGH die Frage vorgelegt, ob eine Behörde sich auf den Gerichtsstand des Art. 3 lit. b EuUntVO berufen könne.
2. Gegen den Beschluss des Amtsgerichts hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt.
Der Antragsteller geht davon aus, dass nach der Rechtsprechung des BGH eine Zuständigkeitskonzentration grundsätzlich für eine effektive Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten geeignet sei, weil sie zur Entwicklung einer besonderen Sachkunde beitrage. Die Beurteilung, ob das Konzentrationsgericht örtlich zuständig sei, könne nicht alleine davon abhängen, ob deutsches Unterhaltsrecht anwendbar und ob das Konzentrationsgericht weiter entfernt seien
Bei Berücksichtigung der Gesamtumstände sei eine örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Stuttgart gemäß § 28 AUG gegeben.
Was die internationale Zuständigk...