Leitsatz (amtlich)
1. Die in § 32 Satz 1, § 28 Abs. 1 IfSG in der Fassung vom 16. Mai 2020 normierte Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen, auf der die tatbestandliche Ausgestaltung der Bußgeldbestimmung in § 9 Nr. 1, § 3 Abs. 1 CoronaVO Baden-Württemberg beruht, wird den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht gerecht. Sie genügt auch nicht den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG.
2. Das Verfahren wird daher ausgesetzt und die Akten dem BVerfG zur Entscheidung nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG vorgelegt.
Normenkette
IfSG § 28 Abs. 1 Fassung: 2020-05-16, § 32 S. 1 Fassung 2020-05-16; GG Art. 100, 103 Abs. 2, Art. 80 Abs. 1 S. 2; CoronaVO BW § 9 Nr. 1 Fassung: 2020-05-09, § 3 Abs. 1 Fassung: 2020-05-20; GVG § 121 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Stuttgart (Entscheidung vom 09.12.2020; Aktenzeichen 16 OWi 171 Js 87652/20) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 9. Dezember 2020 wird das Verfahren
ausgesetzt.
Die Akten werden dem Bundesverfassungsgericht
vorgelegt
zur Entscheidung der Fragen
ob die infektionsschutzrechtliche Generalklausel des § 28 Absatz 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz in der zur Tatzeit in vorliegender Sache am 16. Mai 2020 geltenden Fassung dem aus Art. 20 Absatz 3 in Verbindung mit Art. 80 Absatz 1 Sätze 1 und 2 Grundgesetz resultierenden Parlamentsvorbehalt entspricht, wonach die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen durch Gesetz ermächtigt werden können, Rechtsverordnungen zu erlassen, wobei Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden müssen
und
- ob die Bußgeldbewehrung der Verletzung des auf die Generalklausel des § 28 Absatz 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (in Verbindung mit § 32 Satz 1 und § 73 Absatz 1a Nummer 24 Infektionsschutzgesetz) gestützten Gebots zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in der zur Tatzeit in vorliegender Sache am 16. Mai 2020 geltenden Fassung den Anforderungen des aus Art. 103 Absatz 2 Grundgesetz folgenden besonderen Bestimmtheitsgebots entspricht.
Gründe
I.
1.
Mit Urteil vom 9. Dezember 2020 hat das Amtsgericht Stuttgart den Betroffenen kostenpflichtig "wegen einer vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit des Nichttragens einer Mund-Nasen-Bedeckung entgegen der Corona-Verordnung" zu einer Geldbuße von 200 EUR verurteilt.
Die Liste der angewendeten Vorschriften im Urteil lautet wie folgt:
§§ 73 Abs. 1 a Nr. 24 i.V.m. 32, 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG, 9 Abs. 1 Nr. 2, 3 Abs. 1 Satz 3 Corona-Verordnung
Das Amtsgericht hat festgestellt:
"Am 16.05.2020 um 14.15 Uhr hielt sich der Betroffene an der Stadtbahnhaltestelle Charlottenplatz in 70173 Stuttgart auf, ohne eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, obwohl ihm das Tragen einer solchen zuzumuten war. Der Angeklagte wusste, dass die Corona-Verordnung das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung vorsah und trug eine solche dennoch bewusst nicht, um gegen die Anordnung der Maskenpflicht zu verstoßen.
(...)
(Er) trug durch seinen Verteidiger vor, dass er bewusst keine Maske getragen habe, da er § 3 Abs. 1 Satz 3 der Coronaverordnung für verfassungswidrig halte. Zunächst sei dieser formell verfassungswidrig. Außerdem würden Grundrechte verletzt."
2.
Gegen seine Verurteilung wendet sich der Betroffene mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, die er auf die Sachrüge und auf Verfahrensrügen stützt. In der Begründungsschrift seines Verteidigers stuft er die "sog. Corona-Maßnahmen" als verfassungswidrig ein und beantragt zur Klärung der Rechtslage die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts.
3.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 3. August 2021 beantragt, die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen, mit anderen Worten, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde des Betroffenen gemäß § 80 Abs. 1 OWiG zu verwerfen.
4.
Der von dem gemäß § 80a OWiG zuständigen Einzelrichter aufgrund der gegenständlichen verfassungsrechtlichen Bedenken vorgeschlagenen Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG hat die Generalstaatsanwaltschaft nicht zugestimmt. Im Hinblick auf das aufgrund des Vorlagebeschlusses des Thüringer Verfassungsgerichtshofs (VerfGH 110/20) vom 19. Mai 2021 beim Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen 1 BvN 1/21 anhängig gewesene Verfahren hat der Einzelrichter die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abgewartet. Mit Beschluss vom 19. Oktober 2022 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf Unzulässigkeit der Divergenzvorlage erkannt.
5.
Mit Beschluss vom 5. April 2023 hat der Einzelrichter gemäß § 80a Abs. 3 OWiG die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts zugelassen und die Sache auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
II.
Die zur Tatzeit geltende CoronaVO hat auszugsweise folgenden Wortlaut:
Verordnung der Landesregierung
über infektionsschützende Maßnahmen
gegen die Ausbreitung
des Virus SARS-CoV-2
(Corona-Verordnung - CoronaVO)
Vom 9. Mai 2020
Auf Grund von § 32 in Verbindung mit den § 28 Absatz 1 Satz 1 ...