Entscheidungsstichwort (Thema)
Straferlass
Leitsatz (amtlich)
Die Rechtswirkungen des Straferlasses nach Art. 313 Abs. 1 EGStGB iVm Art. 316p EGStGB für Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz, die nach dem Konsumcannabisgesetz oder dem Medizinal-Cannabisgesetz nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, treten unmittelbar kraft Gesetzes ein. Das Revisionsgericht hat diesen rückwirkenden Straferlass gemäß § 354a StPO iVm § 2 Abs. 3 StGB auf die Sachrüge hin zu beachten. Eine gebildete Gesamtstrafe ist auf der Grundlage der gesamten Feststellungen des angefochtenen Urteils darauf zu überprüfen, ob einer einbezogenen Strafe ein nach § 3 Abs. 1 KCanG nunmehr strafloser Besitz von Cannabis zugrunde liegt. Ist ein sicherer Rückschluss auf einen Besitz zum Eigenkonsum möglich und liegen alle sonstigen Voraussetzungen einer Straflosigkeit vor, hat das Revisionsgericht seiner Entscheidung den rückwirkenden Straferlass zugrunde zu legen.
Normenkette
StGB § 55 Abs. 1 S. 1; EGStGB Art. 313 Abs. 1, Art. 316p; KCanG § 3 Abs. 1
Verfahrensgang
AG Stuttgart-Bad Cannstatt (Aktenzeichen 4 Ds 531 Js 11756/23) |
LG Stuttgart (Entscheidung vom 26.10.2023; Aktenzeichen 39 NBs 531 Js 11756/23) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 26. Oktober 2023 im Gesamtstrafenausspruch dahin geändert, dass der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten und einer Woche verurteilt wird.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.
Gründe
Das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt hat den Angeklagten am 1. Juni 2023 wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten und wegen Beleidigung zu einer solchen von einem Monat verurteilt. Hieraus sowie aus zwei Geldstrafen von jeweils 25 Tagessätzen - festgesetzt mit Strafbefehlen des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 16. September 2022 und vom 8. November 2022 - hat es eine Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten gebildet. Den Verurteilungen zu den beiden Geldstrafen liegen der Besitz von 0,8 g Tabak-Marihuana-Gemisch am 1. August 2022 sowie von 1,3 g Marihuana am 8. September 2022 zugrunde.
Das Landgericht Stuttgart hat die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten mit Urteil vom 26. Oktober 2023 verworfen.
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision, die lediglich den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg erzielt und sich im Übrigen als unbegründet erweist.
I.
Der Ausspruch über die Gesamtstrafe kann nicht bestehen bleiben. Die Gesamtfreiheitsstrafe ist neu zu bemessen, da das Landgericht bei deren Bildung zwei Geldstrafen zu je 25 Tagessätzen einbezogen hat, die nach neuer Gesetzeslage erlassen sind.
1. Bildet das Gericht eine nachträgliche Gesamtstrafe, so darf es gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB nur solche Strafen einbeziehen, die noch nicht vollstreckt, verjährt oder erlassen sind. Ein Straferlass im Sinne dieser Vorschrift tritt nicht nur als Folge eines Beschlusses nach § 56g Abs. 1 StGB, sondern auch durch eine Amnestieregelung ein (MüKoStGB/von Heintschel-Heinegg, 4. Aufl., § 55 Rn. 23).
a) Parallel mit dem am 1. April 2024 in Kraft getretenen Konsumcannabisgesetz (KCanG) hat der Gesetzgeber im neu eingefügten Art. 316p EGStGB, der ebenfalls zum 1. April 2024 in Kraft getreten ist, bestimmt, dass Art. 313 Abs. 1 EGStGB entsprechend anzuwenden ist und damit einen rückwirkenden Straferlass angeordnet: Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz, die nach dem KCanG oder dem Medizinal-Cannabisgesetz (MedCanG) nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, werden erlassen, soweit sie noch nicht vollstreckt sind.
b) Die Rechtswirkungen des Straferlasses nach Art. 313 Abs. 1 EGStGB treten unmittelbar kraft Gesetzes (ipso jure) ein, ohne dass es einer Entscheidung der Vollstreckungsbehörde bedarf.
Dies ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut, da Art. 313 Abs. 1 EGStGB nicht davon spricht, dass die Strafen erlassen sind, sondern "erlassen werden". Dass der Straferlass von Rechts wegen eintritt, folgt jedoch aus den Gesetzgebungsmaterialien. Der Gesetzgeber ging offensichtlich davon aus, dass die Rechtswirkungen des Straferlasses ohne weitere Entscheidung einer Stelle, d.h. unmittelbar mit Inkrafttreten der Neuregelung eintreten (BT-Drs. 20/8704, S. 155), mit der Folge, dass Verurteilte sofort aus der Haft bzw. dem Maßregelvollzug zu entlassen sind (BT-Drs. 20/8704, S. 192). Für einen Straferlass mit Inkrafttreten der Neuregelung spricht auch, dass Art. 313 Abs. 1 EGStGB - anders als bei den Bestimmungen des Art. 313 Abs. 3 und Abs. 4 EGStGB - keine Zuständigkeitsregelung trifft, sondern lediglich das Verfahren über Einwendungen gegen die Strafvollstreckung nach § 458 StPO bei Zweifeln über die Rechtsfolgen, die sich aus Art. 313 Abs. 1 EGStGB ergeben können, für anwendbar erklärt. Danach kann einer Entscheidung der Vollstreckungsbehörde, dass Vollstreckungsma...