Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes bei Wegzug ins Ausland
Leitsatz (amtlich)
Für die internationale Zuständigkeit gem. Art. 8 der sog. Brüssel II a-Verordnung ist kein Raum, falls ein Kind bereits bei Anhängigkeit eines Sorge- oder Umgangsverfahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einen anderen Staat verlegt hatte. Hierfür ist ein Aufenthalt von 6 Monaten Dauer allenfalls Indiz, jedoch nicht zwingend vorauszusetzen.
Normenkette
EGV 2201/2003 Art. 8-9, 12
Verfahrensgang
AG Tuttlingen (Beschluss vom 19.09.2011; Aktenzeichen 1 F 828/10) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde des antragstellenden Vaters wird der Beschluss des AG - Familiengericht - Tuttlingen vom 19.9.2011 - 1 F 828/10 - aufgehoben.
2. Der verfahrensbeteiligten Mutter wird im zweiten Rechtszug ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt. Ihr wird Rechtsanwalt S. beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
4. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Beschwerdewert: 6.000 EUR.
Gründe
I. Die beteiligten Eltern streiten um die elterliche Sorge für den gemeinsamen Sohn M., geboren am ... 2004, sowie um den Umgang mit ihm.
Die Eltern waren nicht miteinander verheiratet, führten aber eine nichteheliche Lebensgemeinschaft. Seit 2006 leben sie voneinander getrennt, das Kind wird seither von der Mutter betreut. Eine gemeinsame Sorgeerklärung wurde nicht abgegeben.
Anfang Mai 2010 zog die Kindesmutter mit M. nach Spanien, ohne den Kindesvater hierüber zu informieren. Eine Einwohnermeldeamtsbescheinigung der Stadtverwaltung M., mit welcher die Abmeldung nach Spanien dokumentiert wird, stammt vom 4.5.2010; ein "Certificat d. Empadronament/Certificado de Empadronamiento" des Ajuntament de S. datiert vom 28.7.2010 und hat den Inhalt, dass das Kind M. dort am 13.5.2010 gemeldet war. Mit Antrag vom 16.9.2010, bei dem AG Tuttlingen eingegangen am 18.9.2010, beantragte der Vater die Zuteilung des alleinigen Sorgerechts für M., hilfsweise des gemeinsamen Sorgerechts. In der nichtöffentlichen Sitzung des Familiengerichts vom 18.2.2011 trafen die Eltern sodann eine (abändernde) Vereinbarung zum Umgang des Vaters mit M.. Mit Schriftsatz vom 16.5.2011, bei dem AG Tuttlingen eingegangen am 21.5.2011, beantragte der Vater, diese Umgangsvereinbarung abzuändern.
Mit der angefochtenen Entscheidung hat das AG - Familiengericht - Tuttlingen sowohl den Sorgerechts- als auch den auf Abänderung des Umgangs bezogenen Antrag zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Vaters.
Der Senat entscheidet ohne erneute Anhörung der Beteiligten, da diese bereits erstinstanzlich umfänglich erfolgte.
II.1. Die Beschwerde ist gem. §§ 58 ff. FamFG statthaft und zulässig. Im Ergebnis führt sie zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Denn es fehlt an der vorauszusetzenden internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte.
2. Nach Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, der sog. Brüssel IIa-Verordnung, sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Nach Art. 2 Nr. 7 Satz 2 der Brüssel IIa-Verordnung umfasst die "elterliche Verantwortung" im vorgenannten Sinne sowohl das Sorge- als auch das Umgangsrecht.
Das Kind M. verzog zusammen mit der Mutter zu Beginn des Monats Mai 2010 von Deutschland nach Spanien. Mithin hatte es bereits dort, nämlich auf I., seinen gewöhnlichen Aufenthalt, als Mitte September 2010 der Sorgerechtsantrag des Vaters anhängig wurde. Das internationale Kindschaftsrecht definiert den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nicht. Da sämtliche internationale Abkommen auf diesem Gebiet letztendlich dem Schutz des Kindeswohles dienen, ist von einem einheitlichen Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts auszugehen (Winkler von Mohrenfels, FPR 2001, 189, 190 m.w.N.). Der gewöhnliche Aufenthalt stellt auf den tatsächlichen Mittelpunkt der Lebensführung einer Person ab. Auf den Willen, sich an einem Ort auf Dauer niederzulassen, kommt es nicht an. Hat der Aufenthalt sechs Monate gedauert, wird vielfach von einem gewöhnlichen Aufenthalt ausgegangen (OLG Karlsruhe FamRZ 2010, 1577). Aus Sicht des Kindes stellt sich ein Aufenthalt an einem neuen Ort umso mehr als "gewöhnlich" dar, je länger es sich an diesem Ort aufhält (OLG Frankfurt, FamRZ 2006, 883, 884).
Da insbesondere junge Kinder im Hinblick auf eine andere zeitliche Relation sich leichter an eine neue Umgebung gewöhnen, lässt diese Dauer des Aufenthalts auf eine gewisse soziale Integration schließen. Für den zum Zeitpunkt des Umzugs fünf-, knapp sechsjährigen Jungen sind des Weiteren der Umfang und die Intensität der Beziehungen zu Familienangehörigen von besonderem Gewicht. Die Mutter war und is...