Leitsatz (amtlich)
1. Es ist nicht zu beanstanden, dass bei einer bevorstehenden Geburt, bei der sich zunächst keine Risikokonstellation abzeichnet, die erfahrene Hebamme die Geburtsleitung übernimmt und die mit anwesende, unerfahrene Assistenzärztin, die bis dahin noch nie eine Geburt eigenverantwortlich leitete, der Hebamme lediglich helfend zur Hand geht.
2. Bei einer derartigen Rollenverteilung bestehen Anhaltspunkte für Behandlungsfehler der helfenden Assistenzärztin nur dann, wenn für diese Fehler der Hebamme erkennbar wurden und die Ärztin daraufhin hätte handeln müssen (beispielsweise durch frühzeitigere Heranziehung des Facharztes) oder wenn die Ärztin bei ihren Unterstützungsmaßnahmen selbst Fehler beging.
3. Wenn bei einer derartigen Rollenverteilung während der Geburt eine Schulterdystokie auftritt, der Facharzt auch schon informiert und herbeigerufen ist, hat die unerfahrene Assistenzärztin der erfahrenen Hebamme den Vortritt bei weiteren erforderlichen geburtshilflichen Maßnahmen zu lassen.
Verfahrensgang
LG Ravensburg (Urteil vom 30.08.2002; Aktenzeichen 3 O 652/01) |
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des LG Ravensburg vom 30.8.2002 (3 O 652/01) wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist für die Beklagte wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 17.000 Euro abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 230.084,35 Euro.
Gründe
A. Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche aus behaupteten ärztlichen Behandlungsfehlern anlässlich ihrer Geburt am 19.11.1996 im Städtischen Krankenhaus W. geltend.
Die am 9.3.1967 geborene Mutter der Klägerin gebar im Jahr 1988 ihr erstes Kind in der 38. Schwangerschaftswoche mit einem Gewicht von 2.920 gr. Die Geburt erfolgte wegen einer fetalen Bradykardie mittels Vakuumextraktion aus Beckenmitte. Die Mutter nahm bis zur Geburt von 65 auf 79,3 kg an Gewicht zu.
Am 2.4.1996 wurde die Schwangerschaft mit der Klägerin vom Gynäkologen Dr. Sa. festgestellt. Errechneter Geburtstermin sollte der 22.11.1996 sein. Im Mutterpass findet sich ab der 36. Schwangerschaftswoche die Eintragung „Oedeme”.
Eine letzte sonographische Geburtsgewichtsschätzung vom 23.10.1996 kam zu einem zu erwartenden Geburtsgewicht von rund 2.900 gr.
Am 19.11.1996 um 1.00 Uhr stellte sich die Mutter der Klägerin, die während der Schwangerschaft mit der Klägerin von 63,5 auf 84,6 kg bei einer Körpergröße von 167 cm zugenommen hatte, erstmals in der gynäkologischen belegärztlichen Abteilung des Städtischen Krankenhauses W. vor. Diese Abteilung wird von den Dres. W., H. und L. betrieben. Die Beklagte war von den Belegärzten zur Verrichtung des Stationsdienstes angestellt worden. Im Herbst 1996 war die Beklagte etwa ein Jahr lang im Bereich der Geburtshilfe tätig gewesen, davon ein halbes Jahr als Ärztin im Praktikum und ein weiteres halbes Jahr als Assistenzärztin. Die Leitung einer Geburt war ihr noch nicht übertragen worden.
In der Nacht wurde von 2.58–3.24 Uhr ein CTG geschrieben. Wehen traten alle 5–6 Minuten auf; der Muttermund war nach einem handschriftlichen Eintrag auf dem CTG 1–2 cm geöffnet, der Kopf der Klägerin noch leicht abschiebbar im Beckeneingang und die Fruchtblase noch erhalten. Die Mutter der Klägerin wurde noch einmal nach Hause geschickt.
An demselben Tag kurz vor 14.00 Uhr stellte sich die Mutter der Klägerin wieder vor und wurde von der zuständigen Hebamme, der früheren Beklagten Ziff. 2, die damals schon über 16 Jahre Berufserfahrung hatte, aufgenommen. Es wurden regelmäßige Wehen alle 5 Minuten und eine Muttermundsweite von 5 cm festgestellt. Das zunächst bis 14.35 Uhr geschriebene CTG ergab eine relative fetale Tachykardie (160–170/Min) mit teilweise eingeschränkter Oszillation bei starken Kindsbewegungen.
Um 15.10 Uhr benachrichtigte die Hebamme Herrn Dr. H. in dessen Praxis von der bevorstehenden Geburt. Ein weiteres, von 15.03–15.30 Uhr geschriebenes CTG ergab einen normofrequenten Befund mit guter Oszillation. Um 15.15 Uhr war der Muttermund auf 6–7 cm geweitet.
Das ab 15.30 Uhr durchlaufende CTG ließ bis 16.13/16.14 Uhr eine fetale Herzschlagfrequenz von 130 Schlägen/Min. mit eingeschränkter, zum Teil silenter Oszillation bei guten bis starken Kindsbewegungen erkennen. Gegen 15.43/15.44 Uhr eröffnete die Hebamme die Fruchtblase; dabei ging reichlich klares Fruchtwasser ab. Zwischen 15.55 Uhr und 16.00 Uhr wurde durch die Beklagte, nach deren Darstellung auf Anweisung des Dr. H., ein Wehenunterstützungstropf mit 500 ml Glucose und 3 IE Orasthin angelegt. Im Partogramm ist hierzu als Grund „Wehenschwäche, sekundär” vermerkt.
Der CTG-eintragung ist zu entnehmen, dass Dr. H. um 16.08 Uhr informiert wurde; das handschriftliche Protokoll der Hebamme nennt 16.10 Uhr als Zeitpunkt, zu dem Dr. H. gerufen wurde. Die Presswehen setzten gegen 16...