Leitsatz (amtlich)
1. In Pressesachen ist der Verfügungsgrund für ein Unterlassungsbegehren gewöhnlich ohne Weiteres gegeben, wenn keine Selbstwiderlegung der Dringlichkeit, insbesondere durch zu langes Zuwarten, gegeben ist.
2. Ein Zuwarten des Antragstellers von mehr als acht Wochen bzw. zwei Monaten ab dem maßgeblichen Zeitpunkt der Erlangung der Kenntnis von der Rechtsverletzung widerlegt regelmäßig die Dringlichkeit.
3. Die Bezeichnung eines Anderen als "(bekannter) Neonazi" stellt in der Regel eine Meinungsäußerung dar. Sie kann aber abhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalls, insbesondere vom Zusammenhang, in dem sie fällt, auch als Tatsachenbehauptung einzustufen sein. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn eine gegenwärtige oder frühere Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei oder Gruppierung behauptet wird.
4. Äußert oder billigt gemand öffentlich, etwa als "Blogger" oder auf Veranstaltungen, typisches rechtsradikales Gedankengut, kann sich die Bezeichnung dieser Person als "bekannter Neonazi" auf ausreichende tatsächliche Bezugspunkte stützen und stellt eine zulässige, nicht als Schmähkritik einzustufene Meinungsäußerung dar.
Da es sich um ein einstweiliges Verfügungsverfahren handelt, ist ein weiteres Rechtsmittel nicht möglich.
Normenkette
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1; ZPO §§ 940, 935; BGB §§ 823, 1004 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Urteil vom 29.06.2015; Aktenzeichen 11 O 80/15) |
Tenor
Die Berufung des Verfügungsklägers gegen das Urteil des LG Stuttgart vom 29.06.2015 (Az: 11 O 80/15) wird zurückgewiesen.
Der Verfügungskläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Gründe
I. Der Verfügungskläger (i.F: Kläger) begehrt von der Verfügungsbeklagten (i.F.: Beklagte), welche die "St Zeitung" verlegt und die Website "www.st-zeitung.de" betreibt, aufgrund eines von der Beklagten sowohl in der Printausgabe als auch in der Onlineausgabe am 16.04.2015 erschienenen Artikels, es zu unterlassen, ihn als "bekannten Neonazi" zu bezeichnen.
1. Der parteilose Kläger betreibt unter dem Autorennamen "M M" einen politischen Blog mit dem Titel "Islamisierung und Linkstrend stoppen - Grundrechte schützen - Demokratie stärken". In seinen Veröffentlichungen setzt er sich kritisch mit dem Islam sowie einer seiner Ansicht nach "linksextremen-sozialistischen Politik" auseinander und warnt nach eigenen Angaben insbesondere eindringlich vor totalitären Regimen jeglicher Art, so auch dem Nationalsozialismus als auch einer aufkommenden europäischen Islamisierung sowie den damit verbundenen Gefahren für die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Der am 16.04.2015 unter der Überschrift "Nach dem Auftreten von Pegida - Wird K ein rechtsextremes Zentrum?" erschienene Artikel (vorgelegt als Anl. A 2, Bl. 12), der sich mit den Pegida-Demonstrationen in K und deren möglichen Folgen auseinandersetzt, erwähnt den Kläger in folgendem Abschnitt: "Es gab wohl auch Versuche, die Teilnahme von NPD-Mitgliedern bei Pegida in K zu verhindern. Die Abgrenzung zur rechtsextremen Szene scheint aber nicht zu funktionieren. Auch das ist mit Facebook-Einträgen dokumentiert, die teilweise nach zwei, drei Stunden wieder geändert werden. Mehrfach traten in K bekannte Neonazis wie "M M" (alias K-M M), ein rechtsradikaler Blogger und ausgewiesener Islamhasser, oder... auf. Am Dienstag skandierten auch Hooligans der "P Berserker" rechte Parolen."
Der Kläger ist der Ansicht, hierdurch sei er in seinem Persönlichkeitsrecht und seiner Ehre verletzt worden. Er hat vorgetragen, die Bezeichnung "bekannter Neonazi" sei als unwahre Tatsachenbehauptung anzusehen, die geeignet sei, ihn verächtlich zu machen und in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Seine Veröffentlichungen rechtfertigten gerade nicht seine Bezeichnung als "Neonazi". Selbst wenn man von einer Meinungsäußerung ausgehe, stellte diese eine unzulässige Schmähkritik dar. Es fehle jeder Bezug und jeder Hinweis, aus welchen Tatsachen sich eine Nähe zum Nationalsozialismus ergeben sollte.
Die Beklagte hat dem entgegengehalten, die Bezeichnung "bekannter Neonazi" sei eine schlagwortartige Bewertung der geistigen Haltung und der Äußerungen des Klägers und keine Tatsachenbehauptung. Der durchschnittliche Leser wisse, dass solche Äußerungen im Meinungskampf stark meinungsgeprägt sowie ideologisch gefärbt seien, und verstehe den Begriff "Neonazi" als Zusammenfassung für ein rechtsextremes Denken, das sich aktuell insbesondere in der krassen Ablehnung von Menschen anderen Glaubens oder anderer Herkunft aufgrund einer "völkischen" Gesinnung äußere.
Eine Schmähkritik liege nicht vor. Der Verfasser des Artikels habe an die im Internet verbreiteten Äußerungen des Klägers angeknüpft. Die Bewertung "Neonazi" habe im Rahmen der öffentlichen Diskussion über die Pegida-Demonstration in K und deren Unterstützer und Teilnehmer erfolgen dürfen.
Der Kläger äußere sich selbst sehr deutlich und zugespitzt, weshalb ihr ein "Recht zur Polemik" zustehe. Wer Islam und Nationalsozialismus...