Entscheidungsstichwort (Thema)
Abschiebungsschutz wegen Selbstmordgefahr
Leitsatz (amtlich)
1. Zu den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen, welche die Annahme einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung eines Ausländers gemäß dem § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gebieten können, zählt insbesondere das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Ist die Gesundheit des Abzuschiebenden so angegriffen, dass das ernsthafte Risiko besteht, unmittelbar durch die Abschiebung werde sein Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, liegt Reiseunfähigkeit in dem Sinne vor, sofern nicht seitens der Ausländerbehörde effektive Schutzmaßnahmen getroffen werden können.
2. Macht die Ausländerbehörde die Entscheidung über die Abschiebung von einer vorherigen amtsärztlichen Feststellung der Reisefähigkeit des Ausländer abhängig, so ist dieser im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht gemäß § 82 Abs. 1 AufenthG verpflichtet, für diese amtsärztliche Begutachtung behandelnde Ärzte unverzüglich von ihrer Schweigepflicht zu entbinden.
3. Bei ansonsten gegebener Reisefähigkeit steht eine ärztlich attestierte Suizidalität einer Abschiebung dann nicht entgegen, wenn die erforderlichen Schutzmaßnahmen von der Ausländerbehörde, der insoweit eine Garantenstellung zukommt, ergriffen werden. Erforderlich, aber auch als ausreichend ist eine Überprüfung der Reisefähigkeit des Ausländers unmittelbar vor der Abschiebung, gegebenenfalls seine ärztliche Begleitung während der Abschiebung und eine Inempfangnahme des Selbstmordgefährdeten durch einen Arzt im Heimatland, dem die Entscheidung über die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen und gegebenenfalls deren Veranlassung obliegt.
4. Sofern die Ausländerbehörde aufenthaltsbeendende Maßnahmen von dem Ergebnis einer noch ausstehenden ärztlichen Untersuchung des Ausländers – im konkreten Fall ausdrücklich durch einen Amtsarzt – abhängig gemacht hat, und somit völlig offen ist, ob dem in Ausländer in absehbarer Zeit eine Abschiebung droht, fehlt es eine auf Gewährung von Abschiebungsschutz zielende einstweilige Anordnung (§ 123 Abs. 1 VwGO) an einem Anordnungsgrund.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1; VwGO § 123 Abs. 1, § 146 Abs. 4 S. 6; AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, § 82 Abs. 1; SHKG § 2 Abs. 1-3
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 9. Juni 2010 – 10 L 557/10 – wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsteller.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,– EUR festgesetzt.
Tatbestand
I.
Der Antragsteller, türkischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben im August 2007 in die Bundesrepublik ein und suchte zunächst erfolglos um die Anerkennung als Asylberechtigter nach. (vgl. Ablehnungsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27.8.2007 – 5271345-163 –, Blatt 9 der Ausländerakte (AA), mit dem der Asylantrag und der Antrag auf Anerkennung als Flüchtling jeweils als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden sind, und das die Klage gegen die letztgenannte Entscheidung abweisende Urteil des Verwaltungsgerichts vom 5.6.2008 – 6 K 1124/07 –) Im Dezember 2007 heiratete er eine deutsche Staatsangehörige und beantragte im gleichen Monat die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
Im Mai 2008 wurde zunächst die Abschiebung des Antragstellers, der sich zuvor im Besitz einer Aufenthaltsgestattung für Asylsuchende befunden hatte, ausgesetzt (Duldung). Im Juli 2008 wurde ihm eine bis September 2008 befristete Aufenthaltserlaubnis zur Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft erteilt. Mit Blick auf den gestellten Verlängerungsantrag wurden ihm seit September 2008 zunächst Fiktionsbescheinigungen ausgestellt.
Im November 2008 erklärte die Ehefrau gegenüber dem Antragsgegner, dass sie seit Oktober 2008 von ihrem Ehemann getrennt lebe.
Von November 2008 bis Anfang Januar 2009 wurde der Antragsteller stationär in einer Klinik für Psychiatrie – Psychotherapie wegen “paranoid-halluzinatorischer Symptomatik” behandelt. (vgl. das ärztliche Attest des SHG-Klinikums Merzig, Blatt 182 der AA, wonach der Antragsteller dort seit dem 18.11.2008 stationär behandelt wurde) Nach seiner Entlassung aus der Klinik wurde er ambulant wegen einer “schweren depressiven Störung” und einer posttraumatischen Belastungsstörung sowohl psychopharmakologisch als auch psychotherapeutisch weiter behandelt. (vgl. das ärztliche Attest des SHG-Klinikums Merzig vom 6.4.2009, Blatt 253 der AA, wonach die “unglückliche Ehesituation”, die durch die beantragte Scheidung aufgelöst werden sollte, einen “wesentlichen destabilisierenden Faktor” bildete, und das ergänzende Attest vom 3.8.2009, Blatt 319 der AA, wonach eine “Rückbildung der Symptome” vorlag, allerdings für den Fall der Rückführung in die Türkei “mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine drastische Verschlechterung seiner psy...