Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Vor- und Nachrangverhältnis zwischen Eingliederungshilfemaßnahmen nach SGB 12 und nach SGB 8
Leitsatz (amtlich)
Ist eine stationäre Unterbringung und Betreuung des Hilfeempfängers sowohl wegen massiver Verhaltensauffälligkeiten als Folge einer seelischen Behinderung als auch wegen einer (zumindest drohenden) körperlichen Behinderung infolge einer schweren Diabetes-Erkrankung mit chronisch unzureichender Stoffwechseleinstellung im Zusammenhang mit schlechter Patientenmitarbeit konkret erforderlich, greift die Vor- und Nachrangregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII ein. Diese begründet die vorrangige Zuständigkeit des Trägers der Sozialhilfe.
Normenkette
SGB VIII § 10 Abs. 4 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 6. August 2008 – 11 K 2012/07 – wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Antragsverfahrens trägt der Beklagte.
Gründe
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor bezeichnete Urteil, durch das er verpflichtet wurde, dem Kläger die für den Hilfeempfänger D… L… (im Folgenden: Hilfeempfänger) in dem Zeitraum vom 18.4.2007 bis zum 30.9.2007 entstandenen Jugendhilfekosten in Höhe von 45.017,30 EUR zuzüglich Prozesszinsen in gesetzlicher Höhe seit dem 27.11.2007 zu erstatten, ist zulässig, bleibt indes in der Sache ohne Erfolg.
Der von dem Beklagten allein geltend gemachte Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor.
Mit dem angefochtenen Urteil wurde dem Kläger ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 102 Abs. 1 SGB X für eine dem 1992 geborenen Hilfeempfänger in der Zeit vom 18.04.2007 bis 30.09.2007 gewährten Maßnahme (Unterbringung und Betreuung in der Jugendeinrichtung S… S…) gegen den Beklagten zuerkannt.
Zur Begründung ist in dem Urteil des Verwaltungsgerichts im Wesentlichen ausgeführt, im Falle vorläufiger Leistungserbringung eines Sozialleistungsträgers aufgrund gesetzlicher Bestimmungen sei der an sich zur Leistung verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig. Für die hier in Rede stehende Gewährung von Eingliederungshilfe für den Hilfeempfänger in Form einer internatsmäßigen Betreuung in der Jugendeinrichtung S… S… in dem genannten Zeitraum sei der Beklagte sachlich und örtlich zuständig. Die sachliche Zuständigkeit des Beklagten ergebe sich aus der Nachrangregel des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII i. V. m. § 53 SGB XII.
Sowohl der Kläger als auch der Beklagte seien für die Leistungserbringung zuständig gewesen.
Die Zuständigkeit des Klägers zur Leistungserbringung ergebe sich aus § 35a Abs. 1 i. V. m. § 69 Abs. 1 SGB VIII, denn die Unterbringung des Hilfeempfängers in der Einrichtung S… S… sei (auch) aufgrund der – zwischen den Beteiligten unstreitigen – seelischen Behinderung des Hilfeempfängers erforderlich gewesen. Diese seelische Behinderung sei jedenfalls mitursächlich.
Die Zuständigkeit des Beklagten zur Leistungserbringung folge aus § 53 Abs. 1, Abs. 2 SGB XII. Bei dem Hilfeempfänger sei wegen dessen schwerer Diabetes mellitus Typ 1 – Erkrankung mit chronisch unzureichender Stoffwechseleinstellung im Zusammenhang mit schlechter Patientenmitarbeit eine (drohende) körperliche Behinderung gegeben. Dies stehe zwischen den Beteiligten ebenfalls außer Streit und werde auch durch die Aktenlage belegt. Auch diese Behinderung sei zumindest (mit)ursächlich für die Unterbringung in der Jugendeinrichtung S… S… in der Zeit vom 18.4.2007 bis zum 30.9.2007 gewesen. Dies ergebe sich insbesondere aus der Stellungnahme der Einrichtung vom 23.4.2008.
Da § 53 Abs. 1 SGB XII für die Erforderlichkeit der Unterbringung ausdrücklich auf die Besonderheiten des Einzelfalles abstelle, sei – ebenso wie bei § 35a SGB VIII – eine konkrete Betrachtungsweise geboten. Dabei könne dahinstehen, ob der in der Rechtsprechung auch vertretene rechtliche Ansatz, wonach eine Maßnahme der Eingliederungshilfe dann nicht gegeben sei, wenn bei einer intakten Familie ein Heimaufenthalt des Behinderten nicht notwendig gewesen wäre, dieser gesetzlichen Vorgabe entspreche. Vorliegend sei unabhängig von den (erzieherischen) Fähigkeiten der Eltern des Hilfeempfängers ein konkreter Bedarf auch mit Blick auf dessen körperliche Behinderung festzustellen. Die Diabeteserkrankung des Hilfeempfängers sei aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles so schwerwiegend, dass er nur von besonders geschulten und ausgebildeten Personen im Rahmen eines Heimaufenthalts habe betreut werden können.
Mit Blick auf die Stellungnahmen des auf die Betreuung diabeteskranker Kinder und Jugendlicher spezialisierten Internats W… vom 13.7.2006, das der Hilfeempfänger bis zum 14.7.2006 besucht habe, sowie die Verlaufsberichte der Einrichtung S… S… vom 6.7. und 12.7.2007 sei davon auszugehen, dass der Hilfeempfänger nicht allein der Pflege seiner Eltern hätte...