Detlef Burhoff, Annika Hirsch
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die mit einer polizeilichen Zeugenvernehmung zusammenhängenden Fragen sind von erheblicher praktischer Bedeutung. |
2. |
Bei einer polizeilichen Vernehmung eines Zeugen hat der Verteidiger nach h.M. kein Anwesenheitsrecht. |
3. |
Auch der Beschuldigte hat bei der Vernehmung des Zeugen durch die Polizei kein Anwesenheitsrecht. |
4. |
Anderen Personen kann aber ein Anwesenheitsrecht zustehen. |
5. |
Nach § 163 Abs. 3 S. 1 sind Zeugen jetzt verpflichtet, auch bei der Polizei zur Vernehmung zu erscheinen. |
6. |
Nach § 163 Abs. 3 S. 2 sind die Vorschriften des "Sechsten Abschnitts des Ersten Buches" der StPO über Zeugen für die polizeiliche Vernehmung für entsprechend anwendbar erklärt worden. Das sind die §§ 48–71. |
7. |
In § 163 Abs. 4 S. 1 Nr. 1–4 ist eine Zusammenstellung der Befugnisse, die auch nach Einführung der Erscheinens- und Aussagepflicht von Zeugen vor der Polizei bei der StA verblieben sind, enthalten. |
8. |
Zu Rechtsmitteln in Zusammenhang mit der polizeilichen Vernehmung ist auf § 163 Abs. 5 zu verweisen. |
9. |
Für die Verwertung der Vernehmung von Zeugen durch die Polizei können sich BVV ergeben. |
10. |
Der Rechtsanwalt erhält für seine Teilnahme an einer Zeugenvernehmung durch die Polizei im EV eine Terminsgebühr nach Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG. |
Rdn 4001
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Vernehmung von Zeugen, Allgemeines, Teil V Rdn 5666, bei → Beweisverwertungsverbote, Allgemeines, Teil B Rdn 1287, bei → Polizeiliche Vernehmung, Beschuldigter, Allgemeines, Teil P Rdn 3874, bei → Vernehmungen, Allgemeines, Teil V Rdn 4967, bei → Videovernehmung im Ermittlungsverfahren, Teil V Rdn 5391, und bei den weiteren u.a. Stichworten.
Rdn 4002
1. In fast jedem EV werden Zeugen von der Polizei vernommen. Die damit zusammenhängenden Fragen sind von erheblicher praktischer Bedeutung.
Rdn 4003
2.a) Bei der polizeilichen Vernehmung eines Zeugen hat der Verteidiger nach h.M. kein Anwesenheitsrecht. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Polizei den Verteidiger nicht zur Vernehmung eines Zeugen zulassen darf, wenn keine Ermittlungsgründe entgegenstehen (Meyer-Goßner/Schmitt, § 163 Rn 15 f. m.w.N.; zur Erscheinenspflicht von Zeugen bei der polizeilichen Vernehmung Teil P Rdn 4008 ff.).
Rdn 4004
b) Ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers ist früher auch für eine → Gegenüberstellung, Teil G Rdn 2492 verneint worden (zum alten Recht KG NJW 1979, 1668 f.; JR 1979, 347; LG Düsseldorf, Beschl. v. 23.7.2014 – 14 Qs-110 Js 1842114–28/14 [polizeiliche Wahllichtbildvorlage]). Hier hat sich die Rechtslage inzwischen durch das das "Zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts v. 27.8.2017" geändert. In § 58 Abs. 2 S. 2, der über § 163 Abs. 3 S. 2 für die polizeiliche Zeugenvernehmung gilt, ist jetzt ausdrücklich ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei einer → Gegenüberstellung, Teil G Rdn 2513 ff., normiert. Dieses betrifft allerdings nur Gegenüberstellungen im eigentlichen Sinn, keine Wahllichtbildvorlagen.
Rdn 4005
3.a) Auch der Beschuldigte hat bei der Vernehmung des Zeugen durch die Polizei kein Anwesenheitsrecht (KK/Weingarten, § 161a Rn 6 u. § 163 Rn 19). Zwar kann theoretisch auch dem Beschuldigten die Anwesenheit gestattet werden; i.d.R. wird das bei polizeilichen Vernehmungen jedoch nicht zweckmäßig sein (LR-Erb, § 163a Rn 97, 93).
Rdn 4006
b) Ist abzusehen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig wird, muss dem unverteidigten Beschuldigten vor der zum Zweck der Beweissicherung durchgeführten Vernehmung der zentralen Belastungszeugen ggf. ein (Pflicht-)Verteidiger bestellt werden (BGHSt 46, 93; u.a. auch EGMR HRRS 2012, Nr. 1; eingehend dazu Neuhaus JuS 2002, 18 ff. in der Anm. zu BGHSt, a.a.O.; BGHSt 51, 150 und zum sog. Konfrontationsrecht u.a. noch EGMR NJW 2013, 3225 m. Anm. Pauly StV 2014, 456; EGMR StV 2017, 213; EGMR, Urt. v. 8.12.2022 – C-348/21, StV-S 2023, 107; BVerfG, Beschl. v. 26.2.2018 – 2 BvR 107/18 m.w.N.; BGH NStZ 2017, 602; OLG München NStZ 2015, 300 m. Anm. Mosbacher; Meyer-Goßner/Schmitt, Art. 6 MRK Rn 22 ff.; Dehne-Niemann HRRS 2010, 189; Du Bosis-Pedain HRRS 2012, 120; Gaede JR 2006, 292; ders., StV 2018, 175; f. Meyer HRRS 2012, 117; Heiniger WiJ 2015, 85; Kirchhoff HRRS 2015, 506; Sommer confront 1/2016, S. 1; Thörnich ZIS 2017, 39; Summers/Scheiwiller/Studer ZStR 2016, 351; → Pflichtverteidiger, Zeitpunkt der Beiordnung, Teil P Rdn 3831 ff.; → Richterliche Vernehmung, Zeugen, Teil R Rdn 4217). Anders kann der Beschuldigte in diesen Fällen sein Fragerecht nicht ausüben. Der Verteidiger muss Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit dem Beschuldigten zu besprechen. Das soll nach der Rspr. des BGH (StV 2005, 533) aber dann nicht gelten, wenn der (nicht verhinderte) Wahlverteidiger an der Vernehmung nicht teilnehmen will (a.A. Wohlers StV 2005, 534 in der Anm. zu BGH, a.a.O.).
☆ Auch wenn die oben zitierte Rspr. sich vornehmlich mit ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmungen befas...