1 Überblick
Das Pflichtteilsrecht wurde durch die Erbrechtsreform mit Wirkung zum 1.1.2010 umfassend geändert.
Die in der Erbrechtsreform zentralen Änderungen im Pflichtteilsrecht gehen im Wesentlichen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.4.2005 (BVerfGE 112, 332) zurück. Die Entscheidung befasste sich unter anderem mit der Frage, ob das grundsätzlich unentziehbare Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers heute noch gerechtfertigt ist oder ob die Testierfreiheit des Erblassers so weit gehen muss, dass er frei entscheiden kann, ob seine Abkömmlinge am Vermögen teilhaben. Das BVerfG setzt sich mit den hiergegen geäußerten Bedenken ausführlich auseinander und kommt aber letztendlich zu dem Ergebnis, dass das Pflichtteilsrecht verfassungsrechtlich geschützt ist.
Damit ist das Pflichtteilsrecht grundsätzlich unentziehbar (Die Entscheidung befasst sich explizit nur mit dem Pflichtteilsanspruch der Abkömmlinge). Es stellt die Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass des Erblassers dar, die über die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet ist. Dem Gesetzgeber ist damit die in der Literatur immer wieder diskutierte vollständige Abschaffung des Pflichtteilsrechts verwehrt (z. B. Petri, ZRP 1993, S. 205; Dauner-Lieb, FF 2000, S. 110, 114).
Dem Pflichtteilsrecht steht allerdings als Gegenpol das Recht der Testierfreiheit des Erblassers gegenüber.
In diesem Spannungsfeld hatte das BVerfG dem Gesetzgeber einen Spielraum eingeräumt, um das bisherige Pflichtteilsrecht an die geänderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Kernpunkte dieser Anpassung waren:
- Die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 BGB werden an die heutigen Bedürfnisse, die sich aus veränderten Familienstrukturen und geänderten Wertvorstellungen ergeben, angepasst.
- Die Zehnjahresfrist in § 2325 Abs. 3 BGB wird in eine sogenannte Pro-rata-Lösung umgewandelt, indem der Wert der Zuwendung jährlich um 1/10 abschmilzt.
- Die Möglichkeit der Stundung des Pflichtteils in § 2331a Abs. 1 BGB wird erweitert, indem nun jeder Erbe stundungsberechtigt ist, wenn ein Härtefall vorliegt. Vorraussetzung ist nicht mehr, dass die Erfüllung des Pflichtteils den Erben "ungewöhnlich hart" treffen muss. Künftig genügt, dass eine "unbillige Härte" vorliegt.
2 Entziehung des Pflichtteils (§ 2333 BGB)
2.1 Die wegweisende Entscheidung des BVerfG
Der genannte Beschluss des BVerfG betraf zwei Verfahren. In beiden Verfahren ging es unter anderem um die Frage, ob das Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers nach § 2303 Abs. 1 BGB und die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Vor diesem Hintergrund stellt das BVerfG dar, wie sich die aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG ergebende Testierfreiheit und die Erbrechtsgarantie der Kinder, die sich aus Art. 14 Abs. 1 Satz GG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG ergibt, gegenüberstehen und welcher Gestaltungsspielraum für die gesetzliche Regelung dieses Interessenkonflikts dem Gesetzgeber eingeräumt ist.
Der Beschluss betrifft in den beiden zugrunde liegenden Fällen die Pflichtteilsfrage im Hinblick auf Kinder. Jedoch sind die generellen Ausführungen zum Umfang der Testierfreiheit sowie der sich aus dem Schutz der Familie ergebenden grundsätzlichen Unentziehbarkeit des Pflichtteils durchaus für sämtliche Pflichtteilsberechtigte heranzuziehen.
2.1.1 Die Sachverhalte
Das Verfahren 1 BvR 1644/00
In diesem Verfahren wendete sich der Sohn 1 der Erblasserin an das Bundesverfassungsgericht, weil er zur Zahlung des Pflichtteils an seinen Bruder (Sohn 2) verurteilt worden war. Die verstorbene Mutter der beiden Brüder hatte in einem privatschriftlichen Testament Sohn 1 zu ihrem Alleinerben eingesetzt, weil der Sohn 2, mit dem sie gemeinsam in einem Haus lebte, sie wiederholt massiv angegriffen hatte. Sohn 2, der an einer schizophrenen Psychose litt, erschlug schließlich die Mutter aus Wut wegen seiner bevorstehenden Einweisung in das Landeskrankenhaus, zerstückelte die Leiche und versteckte die Leichenteile im Wald. Strafrechtlich konnte er für diese Tat wegen Schuldunfähigkeit nicht belangt werden. Ein Gutachten stellte aber fest, dass Sohn 2 das Unrecht seiner Tat habe einsehen können, jedoch zur Tatzeit aufgrund seiner psychischen Erkrankung und damit einer krankhaften seelischen Störung nicht in der Lage gewesen sei, nach dieser Einsicht zu handeln.
Die Instanzgerichte hatten eine Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Nr. 1 BGB abgelehnt, weil Sohn 2 sowohl zum Zeitpunkt der Tötung als auch bei den vorausgegangenen körperlichen Misshandlungen schuldunfähig im strafrechtlichen Sinne gewesen sei.
Der zwischenzeitlich für Sohn 2 eingesetzte Betreuer machte in dem Verfahren gegen Sohn 1 den Pflichtteilsanspruch geltend.
Wie nachfolgend noch näher auszuführen sein wird, hat das BVerfG festgestellt, dass das Pflichtteilsrecht in der bisherigen Ausgestaltung verfassungskonform ist. Die Auslegung der hier maßgebenden Vorschrift des § 2333 Nr. 1 BGB durch die Instanzgerichte wurde allerdings angegriffen. Die Instanzgerichte hatten bei der Frage der Pflicht...