Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
Zusammenfassung
Art. 29 Brüssel Ia-VO(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht unbeschadet des Artikels 31 Absatz 2 das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
(2) In den in Absatz 1 genannten Fällen teilt das angerufene Gericht auf Antrag eines anderen angerufenen Gerichts diesem unverzüglich mit, wann es gemäß Artikel 32 angerufen wurde.
(3) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.
Rn 1
Der Zweck der Vorschrift (bis 2015: ex-Art 27) wird darin gesehen, im Interesse einer effektiven Titelfreizügigkeit bereits die Führung paralleler Verfahren möglichst zu verhindern (EuGH Slg 87, 4861 Rz 9). Freilich begründet die hierauf gestützte weite Auslegung der Vorschrift auch die Gefahr, dass Verfahren erst gar nicht effektiv geführt werden. Den durch den früheren strikten Vorrang des zuerst angerufenen Gerichts hervorgerufenen Missständen soll nun dadurch entgegengewirkt werden, dass das zeitliche Prioritätsprinzip des Abs 1 durch den Vorrang der ausschließlichen Prorogation nach Art 31 II eingeschränkt wird. Eine analoge Anwendung der Art 29 ff iRd CMR ist denkbar (BGH RIW 19, 842: bejahend für Art 30), nicht dagegen iRd InsO (EuGH C-47/18 im Hinblick auf die Besonderheiten von Primär- und Sekundärverfahren).
Rn 2
Art 29 setzt lediglich eine konkurrierende Anhängigkeit beider Verfahren in zwei Mitgliedstaaten voraus. Auf den Wohnsitz der Parteien kommt es nicht an, ebenso wenig darauf, welche Zuständigkeitsgründe für die angerufenen Gerichte geltend gemacht werden (EuGH Slg 03, I-14693 Rz 43). Deshalb erfasst die Vorschrift auch Fälle, in denen die Zuständigkeit des angerufenen mitgliedstaatlichen Gerichts (wegen des drittstaatlichen Wohnsitzes des Beklagten, Art 6) nicht auf einem der Zuständigkeitsgründe der VO beruht (EuGH Slg 91, I-3317). Die Vorschrift gilt aber nicht in Verfahren in den Mitgliedstaaten, welche die Vollstreckung drittstaatlicher Entscheidungen betreffen (EuGH Slg 94, I-117). Das Merkmal ›derselbe Anspruch‹ wird durch den EuGH europäisch-autonom definiert, und zwar in einem in problematischer Weise weit gefassten, auch materiell-rechtlichen Sinne. Maßgebend sind sowohl der Sachverhalt als auch die hieraus erwachsenden Rechtsfolgen. Danach reicht es aus, dass beide Streitigkeiten auf demselben Rechtsverhältnis, etwa demselben Vertrag, beruhen und dass ihre Rechtsfolgen materiell-rechtlich in Widerspruch stehen (etwa EuGH Slg 87, 4861: Vertragsauflösung und Erfüllung; BGH NJW 02, 2795 [BGH 06.02.2002 - VIII ZR 106/01]: Feststellung eines Kündigungsgrundes und Schadensersatzanspruch wegen unberechtigter Kündigung; ferner BGH NJW 95, 1758 [BGH 08.02.1995 - VIII ZR 14/94]). Hingegen sollte man bei Ansprüchen, von denen einer vertragsrechtlicher, der andere deliktsrechtlicher Art ist, grds nicht von demselben Rechtsverhältnis sprechen können, auch wenn sich die zugrunde liegenden Tatsachen überschneiden (BGH 28.1.16, I ZR 236/14, Rz 8). Zu beachten ist allerdings, dass der EuGH für die Zwecke von Art 7 Nr. 1 eine vertragsakzessorische Qualifikation deliktsrechtlicher Ansprüche zugrunde legt, falls die Beurteilung der Rechtswidrigkeit von einem zwischen den Parteien abgeschlossenen Vertrag abhängt (EuGH C-548/12). In diesem Rahmen wird man auch von demselben Anspruch ausgehen können. Ein nur faktischer Gegensatz reicht nicht (EuGH Slg 04, I-9657). Der EuGH will aber der früheren negativen Feststellungsklage sogar Sperrwirkung ggü einer späteren Erfüllungsklage einräumen (EuGH Slg 94, I-5439; C-452/12). Von diesem Standpunkt aus kann die Priorität des ersten Verfahrens auch nicht durch die im deutschen Prozessrecht anerkannte Figur des Vorrangs der später erhobenen Leistungsklage vor der früher erhobenen negativen Feststellungsklage unter dem Gesichtspunkt des Wegfalls des Feststellungsinteresses überspielt werden (BGHZ 134, 201).
Rn 3
Die parallele Rechtshängigkeit muss zwischen denselben Parteien bestehen. Die Parteien können in den verschiedenen Verfahren unterschiedliche Parteirollen (einmal Kl, das andere Mal Bekl) einnehmen, sofern nur der Gegenstand derselbe ist (EuGH Slg 94, I-5439 Rz 31). Ist nur ein Teil der Parteien identisch, so kann das Verfahren vor dem zweiten Gericht mit oder von den übrigen Parteien fortgesetzt werden (EuGH Slg 94, I-5439). Allerdings kann Art 24 eingreifen. Versicherer und Versicherungsnehmer können dieselbe Partei sein, wenn der Versicherer ausschließlich aus übertragenem Recht des Versicherten vorgeht; demgegenüber reicht das bloße Bestehen des Versicherungsverhältnisses nicht, um beide gleichzusetzen (EuGH Slg 98, I-3075; BGHZ 196, 180).
Rn 4
Die Ansprüche müssen anhängig sein. Die bloße Geltendmachung als Verteidigungsmittel, etwa iRe Prozessaufrechnung, genügt nicht (EuGH S...