Prof. Dr. Thomas Pfeiffer
Rn 1
Die Zuständigkeitsordnung der VO 1215/2012 verdrängt, soweit anwendbar, vollständig das Zuständigkeitsregime des nationalen Prozessrechts nach der ZPO und anderen nationalen Prozessrechten. Art 4 I (bis 2015: ex-Art 2 I) beruht auf dem allgemeinen Prinzip des actor sequitur forum rei. Zur Aufrechterhaltung dieses Grundsatzes ist eine ausdehnende Anwendung anderer (besonderer) Zuständigkeitsgründe idR ausgeschlossen (zB EuGH Slg 00, I-5925 Rz 35; Slg 04, I-6009 Rz 14). Ebenso hat der EuGH das Ziel verfolgt, bei der Anwendung der besonderen Zuständigkeitsgründe eine Vermehrung der Gerichtspflicht des Beklagten zu vermeiden (etwa EuGH Slg 02, I-1699 Rz 27 ff; s aber die Erläuterung zu Art 7 Nr 2). Zugleich dienen die fixierten Zuständigkeitsgründe der VO der Rechtssicherheit. Die Zuständigkeitsvorschriften der VO sind so anzuwenden, dass der Kl das zuständige Gericht möglichst ohne Schwierigkeiten ermitteln und der Bekl vorhersehen kann, wo er gerichtspflichtig sein wird (EuGH C-337/17 Rz 35). Für eine Anwendung der forum non conveniens-Lehre ist kein Raum (EuGH Slg 05, I-1383). Allenfalls unter sehr engen und nicht spezifisch zuständigkeitsrechtlichen Voraussetzungen kann die Geltendmachung einer Zuständigkeit nach der VO rechtsmissbräuchlich sein (zB niederl Hoge Raad 7.5.10, 09/01115). Ein Essential des Zuständigkeitssystems der Verordnung besteht ferner darin, dass die Gerichte jedes Mitgliedstaates ihre Zuständigkeit nach der Verordnung selbst prüfen, soweit keine Pflicht zur Anerkennung der Zuständigkeitsentscheidung eines anderen mitgliedstaatlichen Gerichts nach der VO besteht (sehr weitgehend EuGH C-456/11). Anti-suit injunctions sind mit diesem Prinzip unvereinbar und ggü unter die VO fallenden Verfahren anderer Staaten unzulässig (EuGH Slg 04, I-3565). Das gilt auch für anti-suit injunctions zum Schutz von Schiedsverfahren gegen schiedsvereinbarungswidrige Gerichtsverfahren (EuGH Slg 09, I-663). Demgegenüber kann die Vereinbarung von Schadensersatzansprüchen bei Missachtung einer Gerichtsstandsvereinbarung wirksam sein (Art 25 Rn 18). Ebensowenig steht die EuGVO von einem Schiedsgericht erlassenen Antisuit-Verfügungen (Antisuit-Schiedssprüche) entgegen; maßgebend für ihre Anerkennung und Vollstreckung ist allein das New Yorker Übereinkommen (EuGH C-536/13; Pfeiffer LMK 15, 370522).
Rn 2
Für die Begründung der Zuständigkeiten nach der VO reicht es aus, wenn die in der jeweiligen Vorschrift vorgesehenen räumlich-territorialen Anknüpfungsmomente gegeben sind. Für Art 4 I genügt es deshalb, wenn der Beklagtenwohnsitz in einem Mitgliedstaat liegt. Ein weiterer Bezug zu den Mitgliedstaaten ist für die Zuständigkeiten des Kapitels II nicht erforderlich (EuGH Slg 00, I-5925; Slg 05, I-1383).
Rn 3
Hängt die Zuständigkeit vom Vorliegen doppelrelevanter Tatsachen ab, können die Gerichtsstände auch greifen, wenn diese Tatsachen streitig sind (EuGH Slg 82, 825; C-375/13 Rz 65; BGHZ 98, 263; NJW 05, 1435; RIW 15, 451). Allerdings muss das Gericht Einwendungen des Beklagten berücksichtigen (EuGH C-12/15 Rz 45 f), so dass es der schlüssigen Darlegung eines Gerichtsstands bedarf (GA Szpunar, C-375/13 Rz 7; GA Darmon, C-68/93 Rz 110). Außerdem ist das Gericht nicht verpflichtet, vom streitigen Klägervortrag auszugehen, wenn dessen Unrichtigkeit offensichtlich oder sonst ohne Beweisaufnahme ersichtlich ist (Schlosser-Bericht, AblEU C 59/71 v 5.3.1979 Rz 22). Hinsichtlich des Zeitpunkts, zu dem die Zuständigkeitsvoraussetzungen vorliegen müssen, reicht ihr Vorliegen bei Klageerhebung, aber auch eine später eingetretene Zuständigkeit; alsdann besteht diese fort (BGHZ 188, 373).