Gesetzestext
Die Zivilkammern sind, soweit nicht nach den Vorschriften der Prozessgesetze an Stelle der Kammer der Einzelrichter zu entscheiden hat, mit drei Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden besetzt.
A. Gerichtsorganisation.
Rn 1
§ 75 gibt die Regelbesetzung der Zivilkammer bei Entscheidungen vor, betrifft also die Besetzung der Spruchgruppe (s Rn 2 ff). Diese ist abzugrenzen von der Besetzung des Spruchkörpers als Einheit der Gerichtsorganisation: Gem § 21e I 4 kann jeder Richter mehreren Spruchkörpern angehören. Ein Vorsitzender Richter (§ 59 Rn 4) darf aber nur dann mehrere Spruchkörper führen, wenn er richtungsweisenden Einfluss auf die Rspr nehmen kann (BGHZ 37, 210; NJW 92, 47). Der Geschäftsverteilungsplan des Gerichts (§ 21e I 1) darf einer Kammer nicht weniger als drei Mitglieder zuweisen, auch nicht vorübergehend; § 75 steht dem entgegen (Frankf OLGR 05, 797), insb der Schaffung ›leerer Kammern‹ (vgl auch § 60 Rn 2). Dem Spruchkörper können mehr als drei Mitglieder angehören (vgl BGH NJW 18, 1261 [BGH 25.01.2018 - V ZB 191/17] Rz 8), unscharf begrenzt durch die Leistungskraft des Vorsitzenden (näher § 21e Rn 14). Ist der Spruchkörper überbesetzt, so entscheidet eine zuvor nach abstrakten Kriterien festgelegte, interne Geschäftsverteilung (§ 21g) über die Besetzung der Spruchgruppe für das jeweilige Verfahren.
B. Kollegialgericht.
Rn 2
Grds ist die Spruchgruppe bei Entscheidungen mit einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern besetzt. In einem Vertretungsfall muss der Vorsitzende kein Vorsitzender Richter am LG sein (§ 21f), stets aber Richter auf Lebenszeit (§ 28 II 2 DRiG). Einer der Beisitzer kann Richter kraft Auftrags oder auf Probe sein (§ 29 DRiG; vgl § 70 Rn 3). Die Beisitzer können auch Vorsitzende Richter am LG sein (BGHZ 88, 1, 6 = NJW 84, 129, 131). In der Praxis ist die ›volle Kammerbesetzung‹ als Kollegialgericht weitgehend verdrängt worden durch den Einzelrichter (s Rn 3, auch zu Abgrenzungsfragen).
C. Einzelrichter.
Rn 3
§§ 348, 568 ZPO haben den originären Einzelrichter zum Leitbild erhoben (zur Entwicklung vgl § 72a Rn 1; Kissel/Mayer Rz 2 ff). Nach den prozessrechtlichen Vorschriften sind aber neben bestimmten Spezialmaterien (zB § 72a Rn 2) va Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung regelmäßig der voll besetzten Kammer (Rn 2) vorbehalten (vgl BGH WuM 08, 159 [BGH 22.01.2008 - X ZB 27/07]; Kobl NZI 06, 180). Auch über ein Ablehnungsgesuch gegen den Einzelrichter entscheidet gem § 45 ZPO die Kammer in der Besetzung mit drei Mitgliedern, ohne den abgelehnten Richter (BGH NJW-RR 07, 776 [BGH 21.12.2006 - IX ZB 60/06]; § 45 ZPO Rn 2). Ist eine Sache primär der Kammer zugewiesen, kann der Einzelrichter nicht ohne vorherige Übertragung (zB gem § 348a I oder § 526 I ZPO) entscheiden (BGH FamRZ 16, 803; 13.7.17 – V ZB 176/16; zur Rückübertragung: BGH 10.11.22 – III ZR 36/22; ZIP 23, 215). Im ersten Rechtszug sind insb die Kammerzuständigkeiten gem §§ 348 I 2, 348 III und 348a II ZPO zu beachten. Im Berufungsverfahren ist der Einzelrichter nur nach Übertragung zuständig (§ 526 ZPO). Im Beschwerdeverfahren kann der Einzelrichter originär zuständig sein (§ 568 ZPO). Die Beschwerdekammer wird zuständig, wenn dieser ihr die Sache gem § 568 S 2 ZPO überträgt; fehlerhaft ist es, wenn stattdessen die Kammer die Übernahme beschließt (vgl BVerfG NJW 23, 2336 Rz 51 f mwN). Über Beschwerden nach § 68 FamFG entscheidet die Kammer mit 3 Richtern, doch kann die Sache dem Einzelrichter übertragen werden (§ 68 IV FamFG). – Probleme bereitet bisweilen die Grenzziehung zwischen den – nicht dispositiven – Zuständigkeiten des Einzelrichters und des Kollegialgerichts (vgl Stackmann JuS 08, 129), deren Verletzung den verfassungsrechtlich relevanten Makel einer fehlerhaften Besetzung nach sich ziehen kann (vgl BVerfG NJW 23, 2336 Rz 50; Stuttg FamRZ 10, 395). Ist die Kammer in erster Instanz zuständig, erlässt aber der Einzelrichter einen Beschluss, so wirkt der Besetzungsfehler regelmäßig in der Beschwerdeinstanz fort (vgl § 568 ZPO); das führt zur Aufhebung und Zurückverweisung (Kobl MDR 17, 360 [BGH 28.06.2016 - VI ZR 559/14]). Hat ein nicht zuständiger Einzelrichter über einen PKH-Antrag entschieden, soll auch dies notwendig zur Zurückverweisung führen (Ddorf 17.3.16 – 18 W 81/15; dazu Streyl/Wietz NJW 17, 353 mit Blick auf § 348 I 2 Nr 1 ZPO; Saarbr FamRZ 23, 367, 368). Entscheidet das Beschwerdegericht unbefugt durch den Einzelrichter, liegt darin eine Verletzung des Gebots des gesetzlichen Richters, die im Rechtsbeschwerdeverfahren zur Zurückverweisung führt (BGH FamRZ 16, 451; 16, 803). Es ist widersprüchlich, wenn – in einer Beschwerdesache – der Einzelrichter entscheidet und zugleich die Rechtsbeschwerde zulässt (BGH InsbürO 17, 29). Eine solche Entscheidung ist objektiv willkürlich und verstößt gegen das Gebot des gesetzlichen Richters (BGH GrundE 19, 965). Hat zuvor die Kammer entschieden, kann der Einzelrichter nicht über Vollstreckungsmaßnahmen des Prozessgerichts bestimmen (Celle 4.8.04 – 4 W 129/04), auch dann nicht, wenn bei Vollstreckungsanträgen im Verfügungsverfa...