Gesetzestext
(1) Vertritt ein Gericht eines Mitgliedstaats, der nach dieser Verordnung nicht zuständig ist, zu dem das Kind jedoch eine besondere Bindung gemäß Artikel 12 Absatz 4 besitzt, die Auffassung, dass es das Kindeswohl in dem Einzelfall besser beurteilen kann, so kann es unter außergewöhnlichen Umständen vorbehaltlich des Artikels 9 um Übertragung der Zuständigkeit vom Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ersuchen.
(2) Binnen sechs Wochen nach Eingang des Ersuchens gemäß Absatz 1 kann das ersuchte Gericht zustimmen, seine Zuständigkeit zu übertragen, wenn eine solche Übertragung nach seiner Auffassung aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Kindeswohl entspricht. Wenn das ersuchte Gericht der Übertragung seiner Zuständigkeit zustimmt, setzt es das ersuchende Gericht unverzüglich davon in Kenntnis. Wurde dem Ersuchen innerhalb der Frist nicht stattgegeben, dann ist das ersuchende Gericht nicht zuständig.
Rn 1
In Art 12 und 13 finden sich in Anlehnung an Art 8 und 9 KSÜ zwei Regelungen für einen nur in Ausnahmefällen (Erw 26) möglichen Zuständigkeitstransfer. Den Begriff der internationalen Verweisung ist in diesen Vorschriften nicht mehr enthalten. Die Initiative zur Übertragung kann sowohl von dem abgabebereiten zuständigen (Art 12) als auch von dem übernahmewilligen, an sich unzuständigen (Art 13) Gericht ausgehen. Das Verfahren ist in diesem Fall auszusetzen. Eine Zustimmung wenigstens einer Partei ist nicht mehr vorgesehen. Das ersuchte Gericht kann sich binnen sechs Wochen nach Anrufung oder Erhalt des Zuständigkeitsersuchens für zuständig erklären (Art 12 II 1). In diesem Fall erklärt sich das ursprünglich zuständige Gericht nach unverzüglicher Unterrichtung durch das übernahmebereite Gericht für zuständig (Art 12 II 3). Art 13 II regelt das Verfahren, sofern das zuständige Gericht um Übertragung ersucht worden ist. Bei einer ausschließlich bestimmten Zuständigkeit iSv Art 10 IV ist allerdings eine Zuständigkeitsübertragung nicht möglich (Art 12 V). Art 13 I schließt bei einer widerrechtlichen Kindesentführung einen Transfer aus. Dies sollte auch bei einer Initiative des zuständigen Gerichts zu gelten haben (Gruber/Möller IPRax 20, 393, 396). Art 12 III bestimmt eine Frist von sieben Wochen, innerhalb der es zu einer Übernahme der Zuständigkeit kommen muss. Damit werden erstmals zur Vermeidung parallel geführter Verfahren ausdrücklich die Folgen des Unterlassens einer Information normiert (Garber/Lugani NJW 22, 2225, 2227).
Rn 2
Art 12 IV enthält fünf abschließend aufgezählte Voraussetzungen (Erw 26 S 4) einer besonderen Bindung des Kindes zu dem anderen, an sich unzuständigen Mitgliedstaat. Praxisrelevant sind gerade diejenigen Konstellationen, in denen das Kind in dem anderen Mitgliedstaat zwischenzeitlich einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, die internationale Zuständigkeit allerdings aufgrund der perpetuatio fori im Ausgangsstaat verblieben ist.
Rn 3
Das unzuständige Gericht kann aufgrund der örtlichen Nähe des Kindes das Kindeswohl ggf deutlich besser beurteilen als das zuständige Gericht. Eine umfassende Abwägung, ob die Übernahme dem Kindeswohl entspricht, dürfte nicht gefordert sein (Heiderhoff IPRax 20, 521, 523). Weiterhin ist die Rspr des EuGH (FamRZ 19, 2004; Anm Dimmler FamRB 19, 434) maßgebend, wonach der Zuständigkeitstransfer einen realen und konkreten Mehrwert für das Kind bringen muss.
Rn 4
Das in der Hauptsache zuständige Gericht kann das Gericht des anderen Mitgliedstaats entweder über die Zentralen Behörden nach Art 76, 79 lit e) iVm § 3 I Nr 1 IntFamRVG oder aber – neu – nach Art 85, 86 lit a) direkt kontaktieren. Nach wie vor ist in der VO die Form des Übernahmeersuchens und der Zuständigkeitserklärung nicht geregelt. Die Form ist daher nach dem jeweiligen nationalen Recht zu beurteilen (OGH FamRZ 16, 543 mAnm Mankowski). Allerdings ist die praktische Umsetzung nicht einfach. Vor einer Kontaktaufnahme empfiehlt sich angesichts der knapp bemessenen Übernahmefrist die vorherige (eilbedürftige) Übersetzung der wesentlichen Schriftstücke in die Landessprache des ersuchten Staates sowie eine eingehendere Schilderung des Sachverhalts. Weiterhin sollten die Akten in Kopie zur Verfügung gestellt werden. In Deutschland wird für das Verfahren § 13a IntFamRVG maßgebend (dazu Art 15 Brüssel IIa-VO Rn 3). Auch ein Berufungs-/Beschwerdegericht kann ein erstinstanzliches Gericht zur Übernahme der Zuständigkeit ersuchen (Karlsr IPRspr 14, Nr 222, 571; Dimmler FamRB 19, 55). Angesichts der Sechs-Wochen-Frist des Art 12 II 1, innerhalb der sich das angerufene Gericht für zuständig zu erklären hat, sowie der eine Woche später ablaufenden Frist des Art 12 III ist zur Vermeidung unerwünschter Parallelverfahren eine direkte Kontaktaufnahme zu empfehlen. Nicht geregelt hat die VO den verspäteten Eingang der Erklärung des übernahmebereiten Gerichts. Der Wortlaut des Art 12 spricht gegen eine dann noch mögliche Übernahme. Dies wird dem Wohl des Kindes aber nic...