Gesetzestext
(1) Vertritt ein Gericht eines Mitgliedstaats, der nach dieser Verordnung nicht zuständig ist, zu dem das Kind jedoch eine besondere Bindung gemäß Artikel 12 Absatz 4 besitzt, die Auffassung, dass es das Kindeswohl in dem Einzelfall besser beurteilen kann, so kann es unter außergewöhnlichen Umständen vorbehaltlich des Artikels 9 um Übertragung der Zuständigkeit vom Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ersuchen.
(2) Binnen sechs Wochen nach Eingang des Ersuchens gemäß Absatz 1 kann das ersuchte Gericht zustimmen, seine Zuständigkeit zu übertragen, wenn eine solche Übertragung nach seiner Auffassung aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Kindeswohl entspricht. Wenn das ersuchte Gericht der Übertragung seiner Zuständigkeit zustimmt, setzt es das ersuchende Gericht unverzüglich davon in Kenntnis. Wurde dem Ersuchen innerhalb der Frist nicht stattgegeben, dann ist das ersuchende Gericht nicht zuständig.
Rn 1
Die Regelungen entspringen dem Gedanken des forum non conveniens, also der angelsächsischen Lehre, dass bei Vorliegen eines nicht sachdienlichen Gerichtsstandes eine Abgabe zulässig ist. Es handelt sich um eine besondere Zuständigkeitsvorschrift, die restriktiv auszulegen ist (EuGH FamRZ 16, 2071; Anm Pirrung IPRax 17, 562; Anm Dimmler FamRB 17, 14). In Art 12 und 13 finden sich in Anlehnung an Art 8 und 9 KSÜ zwei Regelungen für einen nur in Ausnahmefällen (Erw 26) möglichen Zuständigkeitstransfer (eingehend Dimmler FamRB 23, 388). Den Begriff der internationalen Verweisung ist in diesen Vorschriften nicht mehr enthalten. Die Initiative zur Übertragung kann sowohl von dem abgabebereiten zuständigen (Art 12) als auch von dem übernahmewilligen, an sich unzuständigen (Art 13) Gericht ausgehen. Das Verfahren ist in diesem Fall auszusetzen. Eine Zustimmung wenigstens einer Partei ist nicht mehr vorgesehen. Das ersuchte Gericht kann sich binnen sechs Wochen nach Anrufung oder Erhalt des Zuständigkeitsersuchens für zuständig erklären (Art 12 II 1). In diesem Fall erklärt sich das ursprünglich zuständige Gericht nach unverzüglicher Unterrichtung durch das übernahmebereite Gericht für zuständig (Art 12 II 3). Art 13 II regelt das Verfahren, sofern das zuständige Gericht um Übertragung ersucht worden ist. Bei einer ausschließlich bestimmten Zuständigkeit iSv Art 10 IV ist allerdings eine Zuständigkeitsübertragung nicht möglich (Art 12 V, krit allerdings Heiderhoff IPRax 23, 333, 336). Art 13 I schließt bei einer widerrechtlichen Kindesentführung einen Transfer aus. Dies sollte auch bei einer Initiative des zuständigen Gerichts zu gelten haben (Gruber/Möller IPRax 20, 393, 396). Art 12 III bestimmt eine Frist von sieben Wochen, innerhalb der es zu einer Übernahme der Zuständigkeit kommen muss. Damit werden erstmals zur Vermeidung parallel geführter Verfahren ausdrücklich die Folgen des Unterlassens einer Information normiert (Garber/Lugani NJW 22, 2225, 2227).
Rn 2
Art 12 IV enthält fünf abschließend aufgezählte Voraussetzungen (Erw 26 S 4) einer besonderen Bindung des Kindes zu dem anderen, an sich unzuständigen Mitgliedstaat. Praxisrelevant sind gerade diejenigen Konstellationen, in denen das Kind in dem anderen Mitgliedstaat zwischenzeitlich einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, die internationale Zuständigkeit allerdings aufgrund der perpetuatio fori im Ausgangsstaat verblieben ist.
Rn 3
Das unzuständige Gericht kann aufgrund der örtlichen Nähe des Kindes das Kindeswohl ggf deutlich besser beurteilen als das zuständige Gericht. Eine umfassende Abwägung, ob die Übernahme dem Kindeswohl entspricht, dürfte nicht gefordert sein (Heiderhoff IPRax 20, 521, 523). Das an sich zuständige Gericht hat bei seiner Abwägung, ob das andere Gericht den Fall besser beurteilen kann, unter Berücksichtigung der bisherigen Rspr des EuGH (FamRZ 16, 2071; Anm Dimmler FamRB 17, 14; IPRax 20, 556; Anm Dimmler FamRB 19, 454; FamRZ 23, 1483; eine Verengung gegenüber der bisherigen Rspr des EuGH wollte der Gesetzgeber nicht vornehmen, vgl Heiderhoff IPRax 23, 333, 336) anhand der konkreten Umstände des Falls zu vergewissern, dass der von ihm erwogene Zuständigkeitstransfer an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats nicht die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Lage des Kindes birgt. Hierbei hat das zuständige Gericht zu würdigen, welche etwaigen negativen Auswirkungen eine solche Verweisung auf die emotionalen, familiären und sozialen Beziehungen des Kindes oder auf seine materielle Lage haben könnte. Unter Berücksichtigung der nationalen Verfahrensvorschriften des anderen Mitgliedstaats muss der Transfer dem Kind tatsächlich einen realen und konkreten Mehrwert erbringen (EuGH FamRZ 16, 2071; Anm Dimmler FamRB 17, 14; Anm Dimmler FamRB 19, 454; EuGH FamRZ 23, 1483 = ECLI:EU:C:2023:571). Auch wenn zwei Kriterien des Katalogs erfüllt sind (bspw Geburt des Kindes, Staatsangehörigkeit eines Elternteils), erfordern derartige Umstände keine zwingende internationale Verweisung (EuGH IPRax 20, ...