Gesetzestext
(1) Selbst wenn das Gericht eines anderen Mitgliedstaats für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, sind in dringenden Fällen die Gerichte eines Mitgliedstaats für die einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen zuständig, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehen sind für
a) |
ein Kind, das sich in diesem Mitgliedstaat aufhält; oder |
b) |
Vermögen, das einem Kind gehört und sich in diesem Mitgliedstaat befindet. |
(2) Sofern der Schutz des Kindeswohls es erfordert, informiert das Gericht, das diese Maßnahmen nach Absatz 1 dieses Artikels ergriffen hat, unverzüglich das Gericht oder die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, der nach Artikel 7 zuständig ist, oder gegebenenfalls ein Gericht eines Mitgliedstaats, das die Zuständigkeit nach dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache ausübt, entweder direkt gemäß Artikel 86 oder über die nach Artikel 76 benannten Zentralen Behörden.
(3) Die Maßnahmen nach Absatz 1 treten außer Kraft, sobald das Gericht des Mitgliedstaats, der gemäß dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält.
Gegebenenfalls kann dieses Gericht das Gericht, das einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen getroffen hat, entweder direkt gemäß Artikel 86 oder über die nach Artikel 76 benannten Zentralen Behörden von seiner Entscheidung in Kenntnis setzen.
Rn 1
In dringenden Fällen bietet Art 15 die Rechtsgrundlage für vorläufige Schutzmaßnahmen betreffend Personen und Vermögensgegenstände, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, dessen Gericht bzw Behörde deswegen angerufen wird, für die diese(s) aber international nicht zuständig ist. Häufig wird das daran liegen, dass die Hauptsachezuständigkeit einen gewöhnlichen Aufenthalt voraussetzen würde, der nicht oder noch nicht begründet wurde. Art 15 ist nunmehr als echte Zuständigkeitsvorschrift ausgestaltet (Schulz FamRZ 20, 1141, 1143). Eine Anerkennung und Vollstreckung von vorläufigen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen des in der Hauptsache unzuständigen Gerichts ist – sofern nicht ein Fall des Art 27 V (Rn 3) vorliegt – auch nach der neuen VO nicht möglich. Art 15 II, III 2 sieht Informationspflichten vor, Art 86 bzw Art 76. Die Schutzmaßnahme tritt bei einer Entscheidung des in der Hauptsache zuständigen Gerichts außer Kraft (Art 15 III 1).
Rn 2
Aufgrund des der VO zugrunde liegenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens soll von der Eilzuständigkeit nur restriktiv Gebrauch gemacht werden. Unter der Geltung der vormaligen Brüssel IIa-VO hat der EuGH (FamRZ 09, 843; Anm Völker FamRBint 09, 53; s.a. Pirrung IPRax 11, 50) ausgeführt, eine von einem nationalen Gericht angeordnete Schutzmaßnahme – wie etwa die Inobhutnahme eines Kindes – auf der Grundlage von Art 20 Brüssel IIa-VO (jetzt Art 15) voraussetze, dass diese Maßnahme dringend und vorübergehender Natur sein und in Bezug auf Personen getroffen werden muss, die sich in diesem Mitgliedstaat befinden. In Abkehr zur Rspr des EuGH (FamRZ 10, 525 [Deticek] Rz 50 ff = ECLI:EU:C:2009:810) ist nunmehr nur noch der Aufenthalt des betroffenen Kindes oder belegenes Kindesvermögens in diesem Mitgliedstaat maßgeblich. Sorgeberechtigte Personen müssen sich nicht mehr im Gerichtsstaat befinden. Daher kann bspw gerichtlich die Einwilligung der sich nicht im Aufenthaltsstaat des Kindes befindlichen Eltern in einen lebensrettenden medizinischen Eingriff ersetzt werden (Schulz FamRZ 20, 1141, 1143). Die Anwendung von Art 15 setzt aber nach wie vor eine besondere Dringlichkeit voraus, was bedeutet, dass die Versagung einer Eilentscheidung eine Verweigerung effektiven Rechtsschutzes darstellen müsste (OGH Wien v 31.1.12 – 1 Ob 254/11a). Kann das angerufene Gericht im Wege eines unmittelbaren Kontakts das international zuständige Gericht sofort erreichen und erklärt dieses, es werde die Sache unverzüglich regeln, so sollte das angerufene Gericht es diesem überlassen, die erforderlichen Maßnahmen vAw zu ergreifen oder den Antragsteller an dieses Gericht verweisen. Die in Art 15 den Gerichten eines Mitgliedstaats eingeräumte Befugnis, die nach ihrem Recht vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen in Bezug auf in diesem Staat anwesende Personen auch dann anzuordnen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist, darf indes nicht dahin verstanden werden, dass durch einstweilige Anordnung einem Elternteil die elterliche Sorge für ein Kind übertragen werden kann, wenn das für die Hauptsache zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats die elterliche Sorge bereits vorläufig dem anderen Elternteil übertragen hat und diese Entscheidung in dem ersuchten Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt worden ist (EuGH FamRZ 10, 525 m Anm Henrich; Anm Völker FamRBint 10, 27; s.a. Martiny FPR 10, 493; Janzen/Gärtner IPRax 11, 158).
Rn 2a
Ob die bisherige Rspr des EuGH (FamRZ 10, 1521, 1524 Purrucker I), wonach auch eine Vollstreckung nac...