Gesetzestext
(1) Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.
(2) Unbeschadet des Absatzes 3 bedarf es keines besonderen Verfahrens für die Aktualisierung der Personenstandsbücher eines Mitgliedstaats auf der Grundlage einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe, gegen die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats keine weiteren Rechtsbehelfe eingelegt werden können.
(3) Jede interessierte Partei kann gemäß den Verfahren nach den Artikeln 59 bis 62 und gegebenenfalls nach Abschnitt 5 dieses Kapitels und nach Kapitel VI eine Entscheidung beantragen, in der festgestellt wird, dass keiner der in den Artikeln 38 und 39 genannten Gründe für eine Versagung der Anerkennung gegeben ist.
(4) Das örtlich zuständige Gericht, das jeder Mitgliedstaat gemäß Artikel 103 der Kommission mitteilt, wird durch das nationale Recht des Mitgliedstaats bestimmt, in dem das Verfahren nach Absatz 3 des vorliegenden Artikels eingeleitet wird.
(5) Ist in einem Rechtsstreit vor einem Gericht eines Mitgliedstaats die Frage der Anerkennung einer Entscheidung als Vorfrage zu beurteilen, so kann dieses Gericht hierüber befinden.
A. Überblick.
Rn 1
Kapitel IV der VO regelt in den Art 30–75 die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen, die im Anwendungsbereich der VO ergangen sind. Somit sind auch erstmals Privatscheidungen innerhalb der Mitgliedstaaten, so sie denn nicht als Entscheidungen anzusehen sind (Rn 4), nach Art 64 ff anerkennungsfähig. Ebenso können sorgerechtliche Vereinbarungen der Eltern anerkannt und vollstreckt werden. Art 30–33 regeln die Anerkennung von Entscheidungen, Art 34–41 die Vollstreckung von Entscheidungen wegen der elterlichen Verantwortung. Besondere Regelungen für die Herausgabevollstreckung und den Umgang enthalten die Art 42–50. Erstmals sind Vorschriften für das Vollstreckungsverfahren in der VO in den Art 51–55 normiert, wonach nationales Recht (in Deutschland das IntFamRVG) zur Anwendung gelangt, sofern nicht die VO selbst eigenständige Bestimmungen enthält. Aussetzung und Ablehnung der Vollstreckung sowie das Vollstreckungsversagungsverfahren wird in den Art 56–63 geregelt. Art 64–68 regeln die Anerkennung und Vollstreckung von öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen. Die sonstigen Bestimmungen, insb das Verbot der Nachprüfung in der Sache, sind in den Art 69–75 enthalten.
B. Regelungsgehalt.
Rn 2
Art 30 betrifft die Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen (zu öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen s Art 65). Erfasst sind grds alle Entscheidungen im sachlichen Geltungsbereich der VO. Die Gründe für die Nichtanerkennung sind auf ein Mindestmaß beschränkt. Folge ist für Deutschland ua, dass im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten die §§ 107 ff FamFG nicht anzuwenden sind.
Rn 2a
Die Anerkennung einer Entscheidung erfolgt kraft Gesetzes (Art 30 I). Eine deklaratorische Anerkennung ist nunmehr nicht mehr möglich (Schulz FamRZ 20, 1141, 1146). Eine interessierte Partei kann nur nach Art 30 III die Feststellung des Nichtvorliegens der in den Art 38 und 39 genannten Anerkennungsversagungsgründe beantragen. Art 30 V regelt die inzidente Anerkennung. Die VO überlässt es dem nationalen Recht, ob Versagungsgründe amtswegig oder auf Antrag zu prüfen sind (Schulz FamRZ 20, 1141, 1146).
Rn 2b
Abweisende Entscheidungen können nach wie vor nicht anerkannt werden (zum alten Recht Hausmann Art 2 Brüssel IIa-VO Rz K 29; NK-BGB/Andrae Art 21 Brüssel IIa-VO Rz 6; die Gefahr hinkender Ehen nimmt die VO in Kauf). Freilich bleibt die Möglichkeit einer Anerkennung abweisender Entscheidungen nach anderen – völkerrechtlichen, hilfsweise nationalen (§§ 107 ff FamFG) – Vorschriften unberührt (NK-BGB/Andrae Art 21 Brüssel IIa-VO Rz 7 mwN).
Rn 3
Art 2 I lit b Alt 2 iVm Art 27 V sieht im Gegensatz zur Brüssel IIa-VO nunmehr ausdrücklich die Anerkennung und Vollstreckung einer von einem in der Hauptsache unzuständigen Gericht getroffenen Maßnahme vor.
Rn 4
Art 64 ff der neuen Brüssel IIb-VO ermöglichen explizit die Anerkennung von öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen von Privatscheidungen und in Fragen der elterlichen Verantwortung. Bis zur Entscheidung des EuGH (FamRZ 23, 21 = ECLI:EU:C:2022:879) war unklar, ob eine Privatscheidung innerhalb der Mitgliedstaaten auch auf der Grundlage der Brüssel IIa-VO anerkennungsfähig ist. Nach Ansicht des Gerichtshofs liegt auch dann eine Entscheidung vor, wenn eine Behörde (italienischer Standesbeamter) eine Prüfung der Scheidungsvoraussetzungen bei einer außergerichtlichen Scheidungsvereinbarung – in Abgrenzung zu einem zwischen den Beteiligten geschlossenen Vergleich, den das Gericht ohne inhaltliche Prüfung lediglich zur Kenntnis nimmt – anhand des nationalen Rechts vornimmt (krit Dimmler FamRB 23, 4, 5; vgl auch BGH FamRZ 23, 1103; Anm Dimmler FamRB 23...