Gesetzestext
(1) Die Parteien verhandeln über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht mündlich.
(2) 1Mit Zustimmung der Parteien, die nur bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage widerruflich ist, kann das Gericht eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen. 2Es bestimmt alsbald den Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, und den Termin zur Verkündung der Entscheidung. 3Eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ist unzulässig, wenn seit der Zustimmung der Parteien mehr als drei Monate verstrichen sind.
(3) Ist nur noch über die Kosten oder Nebenforderungen zu entscheiden, kann die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen.
(4) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.
A. Grundlagen.
I. Normzweck.
Rn 1
Abs 1 verankert das Mündlichkeitsprinzip, dem bei der Schaffung der CPO von 1877 entscheidende Bedeutung zukam (zur historischen Entwicklung s Kip; Arens), in den grds für alle Verfahren der ZPO geltenden allgemeinen Vorschriften über das Zivilverfahren. Darüber hinaus sieht die Vorschrift in Abs 2–4 wichtige Ausnahmen von der Mündlichkeit des Verfahrens unter engen Voraussetzungen vor.
II. Vorteile, Funktion und Bedeutung des Mündlichkeitsprinzips.
Rn 2
Die mündliche Verhandlung soll den Parteien bei gleichzeitiger Anwesenheit aller Prozessbeteiligten Gelegenheit geben, in unmittelbarer Rede und Gegenrede den Sach- und Streitstoff zu erörtern (BAG NJW 96, 2749 [BAG 23.01.1996 - 9 AZR 600/93]).
1. Vorteile.
Rn 3
Die Mündlichkeit des Verfahrens hat ggü der Schriftlichkeit anerkanntermaßen eindeutige Vorteile: das Gericht gewinnt einen lebendigen und unmittelbaren Eindruck von dem Vortrag und den Interessen der Parteien und kann wesentliche Punkte mit den Parteien erörtern. Missverständnisse können rasch aufgedeckt und beseitigt, Hinweise des Gerichts (§ 139) je nach Lage des Falles spontan beantwortet werden. Die Parteien können anhand der Reaktion des Gegners Stärken und Schwächen im eigenen Vortrag erkennen und unmittelbar auf die richterliche Überzeugungsbildung einwirken. Aufgrund der gleichzeitigen Anwesenheit aller Prozessbeteiligten hat die im Zentrum des Verfahrens stehende mündliche Verhandlung besondere Bedeutung für die Gewährung rechtlichen Gehörs (Wieczorek/Schütze/Borck vor § 128 Rz 16 ff, 31).
2. Funktion und Bedeutung.
Rn 4
Das Mündlichkeitsprinzip führt zur Vereinfachung, Beschleunigung, und Konzentration des Verfahrens. Darüber hinaus dient es aber auch der materiellen Wahrheitsfindung im Prozess (Wieczorek/Schütze/Borck vor § 128 Rz 19, 31) und der prozeduralen Gerechtigkeit, weil es den Parteien erlaubt, unmittelbar auf das Prozessgeschehen Einfluss zu nehmen, Verfahrenskontrolle durch Öffentlichkeit ermöglicht und die Urteilsfindung iRd Erörterung mit dem Gericht transparent, verständlich und prognostizierbar machen kann. Im Übrigen soll verhindert werden, dass gerade anwaltlich nicht vertretene, prozessunerfahrene Parteien durch die Schriftlichkeit des Verfahrens an der Wahrnehmung ihrer prozessualen Rechte gehindert werden (BAG NZA 08, 726 [BAG 08.05.2008 - 1 ABR 56/06]). Durch die Einführung der obligatorischen Güteverhandlung (§ 278 II–V) im Zuge der Zivilprozessreform 2001 hat der Gesetzgeber den auf einen Dialog des Gerichts mit den Parteien zielenden Stellenwert der mündlichen Verhandlung auch im Hinblick auf eine vergleichsweise Einigung deutlich ausgeweitet (Celle NJW 03, 2994 [OLG Celle 08.08.2003 - 8 W 271/03]; St/J/Kern Rz 1). Dem Gedanken der Verfahrensgerechtigkeit trägt die Ansicht, nach der die Wahl zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht mehr als eine Zweckmäßigkeitsfrage sei (MüKoZPO/Wagner Rz 3), nicht hinreichend Rechnung.
III. Durchbrechungen und Modifikationen des Mündlichkeitsprinzips.
Rn 5
Das Mündlichkeitsprinzip birgt aber auch Gefahren in sich, die aus der Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes und der Schwierigkeit resultieren, komplexe Sachverhalte und Rechtsfragen in mündlicher Rede verständlich zu machen (R/S/G § 79 Rz 7). Es wird daher in der ZPO an zahlreichen Stellen modifiziert und durchbrochen, um eine schriftliche Fixierung des Streitstoffs zu ermöglichen (Musielak/Voit/Stadler Rz 1). Die wichtigsten Durchbrechungen sind: die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung durch Schriftsätze (§ 129), die Bezugnahme auf Schriftstücke in der mündlichen Verhandlung (§ 137 III), das schriftliche Vorverfahren (§ 276), der Protokollierungszwang (§§ 160, 510a), die Wiedergabe des Parteivorbringens im Urteilstatbestand (§ 313 I Nr 5, II) und die für einzelne Prozesshandlungen vorgesehene Schriftform. Ferner enthalten die §§ 139 V, 283 für nachgereichte Schriftsätze Besonderheiten. Darüber hinaus sehen Abs 2–4 ausnahmsweise die Möglichkeit vor, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden, um das Verfahren zu vereinfachen. Diese Vorschriften werden ergänzt durch § 495a, der es dem Gericht im amtsgerichtlichen Bagatellverfahren auch vAw ermöglicht, das schriftliche Verfahren anzuordnen. Ferner kann im schriftlichen Vorverfahren ein Versäumnis- oder Anerkenntnisurteil ohne mündliche Verhandlung ergehen (§§ 307 II, 331 III). Gemäß § 278 VI kann ein ...