Gesetzestext
1War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist oder die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder die Frist des § 234 Abs. 1 einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. 2Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist.
A. Normzweck.
Rn 1
Die Möglichkeit der Wiedereinsetzung dient einerseits der Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes des Zugangs zum Gericht, der nicht unzulässig erschwert werden darf. Andererseits erfordert es auch die Einzelfallgerechtigkeit, einer Partei, die schuldlos eine Frist versäumt hat, eine Möglichkeit zur Beseitigung der Folgen der Fristversäumung einzuräumen.
I. Begriff, Wirkung.
Rn 2
Durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung wird rückwirkend der Zustand hergestellt (fingiert), als sei die fristgebundene Handlung rechtzeitig vorgenommen worden. Es handelt sich damit um eine Durchbrechung der zunächst eingetretenen Rechtskraft. Dies wird besonders deutlich, wenn im Zeitpunkt des Wiedereinsetzungsantrags ein verspätet eingelegtes Rechtsmittel bereits verworfen ist: hat das Wiedereinsetzungsgesuch Erfolg, wird das Rechtsmittel nachträglich als rechtzeitig behandelt, die auf der angenommenen Verspätung des Rechtsmittels basierende Entscheidung wird ohne weiteres gegenstandslos (BGH NJW 13, 697, 698 [BGH 28.11.2012 - XII ZB 235/09]). Bei der Ausgestaltung der Wiedereinsetzung ist aber auch der Rechtssicherheit ein hoher Stellenwert eingeräumt, wie die absolute Frist für die Wiedereinsetzung (§ 234 III) deutlich macht.
II. Maßstab.
Rn 3
Die Verfahrensgrundrechte auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und auf rechtliches Gehör gebieten es, den Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfG, NJW-RR 02, 1005 [BVerfG 20.12.2001 - 2 BvR 1100/01]; BGH 3.12.09 – IX ZB 238/08 juris). Nach der Rspr des BVerfG und des BGH dient das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in besonderer Weise dazu, den Rechtsschutz und das rechtliche Gehör zu garantieren (vgl BGH NJW-RR 08, 930 [BGH 23.01.2008 - XII ZB 155/07], NJW 12, 2522 [BGH 05.06.2012 - VI ZB 16/12]). Diese Funktion des Wiedereinsetzungsgesuchs beeinflusst die Voraussetzungen, unter denen im Einzelfall Wiedereinsetzung zu gewähren ist (vgl nur BGH NJW 15, 3519, 3520 [BGH 24.09.2015 - IX ZR 206/14]). Die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten dürfen daher nicht überspannt werden. Nicht ohne Grund hat das BVerfG wiederholt Anlass zum Eingreifen gesehen (vgl etwa zur Pflicht, eine falsch adressierte Berufungsschrift weiterzuleiten BVerfG NJW 95, 3173, 3175).
B. Die einzelnen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung.
I. Antrag.
Rn 4
§ 233 setzt ausdrücklich einen Antrag auf Wiedereinsetzung voraus (Ausn: § 236 II 2). Der Wiedereinsetzungsantrag steht nur der Partei zu, die die Frist versäumt hat. Zur Form und den Voraussetzungen des Antrags vgl § 236.
II. Die relevanten Fristen.
1. Notfristen und Rechtsmittelbegründungsfristen.
Rn 5
Hauptsächlicher Anwendungsbereich der Wiedereinsetzung sind die Notfristen (§ 224 I 2), also insb die Fristen zur Einlegung und Begründung von Rechtsmitteln. In Betracht kommt aber auch die Wiedereinsetzungsfrist selbst (BGH 24.5.18 – III ZA 30/17, juris Rz 8; Bsp: die Partei erfährt am 2.3., dass ihre Einspruchsschrift auf dem Postweg verloren gegangen ist, muss aber wegen eines am 4.3. erlittenen schweren Verkehrsunfalls zwei Wochen intensivmedizinisch behandelt werden und versäumt deshalb schuldlos die Wiedereinsetzungsfrist). In versäumte Fristen zur Einlegung von Anschlussrechtsmitteln gem §§ 524, 554 kann eine Wiedereinsetzung nicht erfolgen. Diese Fristen sind in § 233 nicht angeführt; insb stellen sie keine Notfristen dar. Zudem kann auch nicht von dem Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden (BGH FamRZ 22, 969 Rz 17 ff). Die Frist für die Verteidigungsanzeige im schriftlichen Vorverfahren wird in § 276 Abs 1 S 1 als Notfrist bezeichnet. Teilweise wird mit durchaus beachtlichen Gründen vertreten, dass eine Wiedereinsetzung auch insoweit erfolgen kann (MüKoZPO/Stackmann Rz 19; aA KG NJR-RR 97, 56).
2. Andere Fristen.
Rn 6
Für andere Fälle der Versäumung prozessualer Fristen (etwa: Antrag auf Tatbestandsberichtigung oder Urteilsergänzung, vgl BGH NJW 60, 866 [BGH 25.01.1960 - II ZR 22/59] und 80, 785 f [BGH 23.01.1980 - IV ZR 217/79]) kommt Wiedereinsetzung (auch im Wege analoger Anwendung) nicht in Betracht; dem steht die bewusste Beschränkung des § 233 auf die darin ausdrücklich genannten Fristen entgegen (MüKoZPO/Stackmann Rz 18). Keine Anwendung auf die Versäumung der Frist zum Widerruf eines gerichtlichen Vergleichs (hM: BGHZ 61, 394, 396; BGH, NJW 95, 521 f, Zö/Greger Rz 7; MüKoZPO/Stackmann Rz 23; Musielak/Voit/Grandel Rz 1; dagegen mit beachtlichen Gründen und der erwägenswerten Empfehlung, die Anwendbarkeit der §§ 233 ff im Vergleich zu vereinbaren St/J/Roth Rz 12 mwN). Unanwendbar bei materiellen Aus...