1. Formelle Beweiskraft.
Rn 6
Die §§ 415 ff enthalten unterschiedliche Beweisregeln für öffentliche oder private Urkunden über Erklärungen, öffentliche Urkunden, die einen Rechtsakt verkörpern (›wirkende Urkunden‹) und öffentliche Urkunden, die eine Tatsache bezeugen. Gegenstand der Beweisregeln ist die formelle (äußere) Beweiskraft der Urkunde (BGH NJW-RR 07, 1006, 1007 [BGH 16.01.2007 - VIII ZR 82/06]; NJW 86, 3086 [BGH 17.04.1986 - III ZR 215/84]; zu § 348 StGB: BGH JZ 87, 522 [BGH 14.08.1986 - 4 StR 400/86]). Die Urkunde bezeugt, dass eine Erklärung bestimmten Inhalts vor der Urkundsperson abgegeben (§ 415) bzw vom Aussteller in der Urkunde abgegeben wurde (§ 416). Die wirkende öffentliche Urkunde beweist, dass eine Anordnung, Verfügung oder Entscheidung bestimmten Inhalts getroffen wurde (§ 417). Die öffentliche Zeugnisurkunde beweist die von der Urkundsperson infolge eigener (§ 418 I) oder fremder Wahrnehmung (nach Maßgabe des § 418 III) bezeugte Tatsache.
Voraussetzung der formellen Beweiskraft ist, dass die Urkunde echt (vgl §§ 437 ff) und unversehrt (vgl § 419) ist. Eine Urkunde ist echt iSd ZPO, wenn sie von dem herrührt, von dem sie nach der Behauptung des Beweisführers herrühren soll (MüKoZPO/Schreiber § 437 Rz 1; St/J/Berger § 437 Rz 1; R/S/G § 120 Rz 11; Anders/Gehle/Gehle ZPO Grdz zu § 437 Rz 3). Wann im Verfahren von der Echtheit der Urkunde auszugehen ist, differiert danach, ob es sich um eine inländische öffentliche Urkunde (§ 437), eine ausländische öffentliche Urkunde (§ 438) oder um eine Privaturkunde (§§ 439, 440) handelt. Für öffentliche und private Urkunden sieht § 441 als Nachweismittel für die Echtheit der Urkunde den Schriftvergleich vor.
Der Inhalt der echten Urkunde ist voll bewiesen, also keiner freien Beweiswürdigung mehr zugänglich. Wenn der Urkundenbeweis über den beurkundeten Vorgang erbracht ist, darf der die Urkunde Aufnehmende grds nicht als Zeuge hierüber vernommen werden (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 415 Rz 27).
2. Materielle Beweiskraft.
Rn 7
Ob eine behauptete Tatsache durch Vorlage der Urkunde bewiesen ist, hängt von dem konkreten Beweisthema ab. Die Relevanz des Urkundeninhalts für das Beweisthema kann als materielle (innere) Beweiskraft der Urkunde bezeichnet werden (St/J/Berger vor § 415 Rz 17; MüKoZPO/Schreiber § 415 Rz 26; enger: Zö/Feskorn Vor § 415 Rz 7: materielle Beweiskraft betreffe Richtigkeit der beurkundeten Erklärung). Entscheidend ist, was mit der Urkunde bewiesen werden soll und bewiesen werden kann. Der Beweis ist mit Vorlage der echten Urkunde erbracht, wenn der Urkundeninhalt für sich genommen das Beweisthema ist (St/J/Berger vor § 415 Rz 18). In diesem Fall decken sich gewissermaßen formelle und materielle Beweiskraft der Urkunde. Ist Gegenstand der Urkunde eine Erklärung, muss jedoch zwischen der Erklärung als solcher und der inhaltlichen Richtigkeit der Erklärung unterschieden werden. Die Urkunde bezeugt nicht die inhaltliche (materielle) Richtigkeit (BGH NJW-RR 12, 649, 650; NJW-RR 07, 1006, 1007 [BGH 16.01.2007 - VIII ZR 82/06]; JZ 87, 522 [BGH 14.08.1986 - 4 StR 400/86] zu § 348 StGB; Musielak/Voit/Huber § 415 Rz 3). Ob die behauptete Tatsache der Wahrheit entspricht, unterliegt also der freien richterlichen Beweiswürdigung (s.a. Rn 23).