Rn 22
Zweitinstanzlich zu berücksichtigen sind über die Fallgruppen II Nr 1–3 hinaus insb:
Rn 23
1. Tatsachen, die unstreitig bleiben. Unstreitiges Vorbringen unterfällt weder Abs 1 (Rn 6) noch Abs 2, insb nicht Nr 3 (BGH GRUR 22, 1550; GE 16, 103; r+s 15, 212; NJW 09, 2532; BGHZ 177, 212; BGH NJW-RR 05, 437; Stuttg NJW-RR 18, 853; Schultzky MDR 16, 968; Schöppner JA 17, 99). Aus der den Zweck des Zivilprozesses und der Präklusionsvorschriften berücksichtigenden Auslegung der §§ 529 I Nr 2, 531 ergibt sich, dass unter ›neue Angriffs- und Verteidigungsmittel‹ iSd § 531 lediglich streitiges und damit beweisbedürftiges Vorbringen fällt. Nicht beweisbedürftiges Vorbringen hat das Berufungsgericht (und sogar das Revisonsgericht: NJW-RR 21, 12) gem § 529 I seiner Entscheidung ohne weiteres zugrunde zu legen, weil das Gericht nicht gezwungen sein darf, seine Entscheidung auf eine unzutreffende, von keiner Partei vorgetragene Tatsachengrundlage zu stützen (stRspr, zuletzt BGH NJW 08, 3434; WM 07, 1932; WM 06, 1115; NJW 06, 298; aA Ostermeier ZZP 120 [2007], 219 ff). Das Berufungsgericht muss deswegen zu neuem Vorbringen rechtliches Gehör gewähren, weil erst danach feststeht, ob es unstr bleibt (BGH NJW 18, 2269). Wird der neue Vortrag zweitinstanzlich unstr, so ist er auch dann zuzulassen, wenn die Geltendmachung bereits in 1. Instanz möglich und zumutbar gewesen wäre oder er dort gar bewusst zurückgehalten wurde (BGH VersR 07, 373). Dies gilt auch dann, wenn durch das unstreitige Vorbringen eine Beweisaufnahme über andere Tatsachen erforderlich wird (BGH GRUR 22, 1550; MDR 21, 1152; NJW 09, 2532; NJW 08, 448; aA München ZIP 06, 2122). Die erstmals im Berufungsrechtszug erhobene Verjährungseinrede ist unabhängig von den Voraussetzungen des § 531 II 1 Nr 1 bis 3 zuzulassen, wenn die Erhebung der Verjährungseinrede und die den Verjährungseintritt begründenden tatsächlichen Umständen zwischen den Prozessparteien unstr sind (BGH NJW 08, 3434: Jena IBR 16, 498). Dies gilt auch für den erst nach Abschluss der 1. Instanz erhobenen Vorbehalt der beschränkten Erbenhaftung, da es für dessen Aufnahme in das Urt keines Sachvortrags bedarf, der streitig sein könnte (BGH NJW-RR 10, 664; Celle FamRZ 10, 1273).
Rn 24
2. Vorbringen, das nicht als Angriffs- und Verteidigungsmittel anzusehen ist (oben Rn 3), also Wertungen oder Rechtsansichten, aber auch eigenständige Angriffe und Verteidigungen (Klage, Klageerweiterung, Klageänderung, Widerklage), für die § 533 gilt. Zum Vortrag materieller Gestaltungsrechte oben Rn 18.
Rn 25
3. Tatsachen, die erstinstanzlich bereits vorgetragen waren, dort aber fälschlich unberücksichtigt geblieben sind, sei es, weil das Gericht von einer Präklusion ausging (oben Rn 7), sei es, weil das Gericht sie für unerheblich hielt (oben Rn 9)
Rn 26
4. Tatsachen, mit denen erstinstanzlicher Vortrag konkretisiert, erläutert, verdeutlicht oder ergänzt wird (BGH Urt v 5.12.17 – IV ZR 184/17; BGH VersR 18, 890; BauR 10, 817; NJW 07, 1531; NJW-RR 07, 1170; MDR 06, 531; BGHZ 159, 245). Dies kann auch bei Vorlage eines Privatgutachtens in zweiter Instanz der Fall sein (BGHZ 194, 290). Das gilt nicht mehr, wenn hierdurch erstinstanzlich unsubstantiierter Vortrag substantiiert wird (Schlesw GesR 12, 312). Möglich bleibt damit auch die Rüge der Unschlüssigkeit des gegnerischen Vortrags (BGH NJW 09, 679).
Rn 27
5. Tatsachen, die in Reaktion auf einen Hinweis des Berufungsgerichts nach § 139 vorgetragen werden (BGH Urt v 26.6.08 – V ZR 225/07; BGH NJW-RR 07, 1612; BGHZ 158, 295; BGH MDR 05, 167). Ist das Berufungsgericht zu einem solchen Hinweis verpflichtet, so muss es der betroffenen Partei auch Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen oder den des Gegners substantiiert zu bestreiten sowie ggf Beweis anzutreten. Vorbringen, das als Reaktion auf einen nach § 139 gebotenen Hinweis erfolgt, muss schon zur Gewährung des rechtlichen Gehörs bei der Entscheidung der Berufungsgerichts Berücksichtigung finden, wenn die Hinweispflicht nicht ins Leere laufen soll (BGH MDR 17, 1113 [BGH 02.05.2017 - VI ZR 85/16]; BGH MDR 16, 664; NJW-RR 13, 1334 [BGH 18.07.2013 - III ZR 208/12]; NJW-RR 10, 70; BGHR 05, 1618). Dies gilt auch für die bloße Konkretisierung, Verdeutlichung oder Ergänzung erstinstanzlichen Vorbringens (BGH BauR 10, 817; NJW 07, 1531; NJW-RR 07, 1170; MDR 06, 531), nicht aber, wenn hierdurch erstinstanzlich unsubstantiierter Vortrag erst substantiiert wird (dazu oben Rn 9).
Rn 28
Dies gilt nicht für den Hinweis des Gerichts auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung wegen Erfolglosigkeit nach § 522 II. Hierdurch wird der Partei keine die Grenzen der §§ 529 I, 531 II erweiternde Möglichkeit zum Vortrag neuer Tatsachen eröffnet (München WM 14, 1916; Köln 11.11.13 – 19 U 98/13).
Rn 29
6. Tatsachen, die erst nach Schluss der erstinstanzlichen Verhandlung entstanden sind (BGH NJW-RR 10, 1478; NJW-RR 05, 1687), soweit dies nicht allein auf einer voluntativen Entschließung allein der...