Rn 1
Die Beschwerde (sofortige Beschwerde und Rechtsbeschwerde) ist dasjenige Rechtsmittel, mit dem Entscheidungen angefochten werden können, die nicht in Urteilsform ergehen (Ausn §§ 71, 99 II, 135 III, 387 III). Die in §§ 511 ff, 542 ff geregelten Rechtsmittel Berufung und Revision richten sich gegen Urteile. Die Beschwerde ergänzt so das System der Rechtsmittel und dient zugleich dazu, ›durch Ausscheiden nebensächlicher Streitpunkte den Stoff des Rechtsstreits für die übrigen Rechtsmittel und damit das Verfahren selbst zu vereinfachen‹ (Hahn/Stegmann, Die Gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Neudruck 1983, Bd 2, S 374); denn Vorentscheidungen des ersten Rechtszugs, die mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar sind, sind der Beurteilung des Berufungsgerichts entzogen (vgl § 512). Die Beschwerde bewirkt – abgesehen von dem Fall, dass das Ausgangsgericht der sofortigen Beschwerde abhilft, § 572 I – den Übergang der Sache in die höhere Instanz (Devolutiveffekt). Außerdem hemmt sie den Eintritt der formellen Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung, der bei nicht angefochtenen Entscheidungen mit Ablauf der Beschwerdefrist (§ 569 I) erfolgt (Suspensiveffekt).
I. Anwendungsbereich.
Rn 2
Die §§ 567–577 gelten für die Beschwerden der ZPO sowie derjeniger Gesetze, die auf die ZPO verweisen (vgl etwa §§ 4, 6 InsO, §§ 15 I, 27 IV AVAG, § 17a IV 3 GVG). Sie gelten nicht für die Beschwerden nach der GBO, dem GKG und der KostO. Das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) vom 17.1.08 (BGBl I 2586), das am 1.9.09 in Kraft getreten ist, verweist insoweit ebenfalls nicht allgemein auf die ZPO. Beschwerde und Rechtsbeschwerde sind vielmehr – ebenso wie früher im FGG – gesondert geregelt (§§ 58 ff, 70 ff FamFG).
II. Gesetzgebungsgeschichte.
Rn 3
Seit dem ZPO-Reformgesetz v 27.7.01 (BGBl I 1887) gibt es in der ZPO und in den auf sie verweisenden Gesetzen nur noch die sofortige Beschwerde und die Rechtsbeschwerde; die früheren Formen der einfachen, der befristeten und der weiteren Beschwerde finden sich gelegentlich außerhalb der ZPO (vgl zB §§ 66, 68 GKG). Mit der ZPO-Reform sollte ›auch das Beschwerderecht als Rechtsmittel gegen Nebenentscheidungen angepasst, vereinfacht und zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung gestrafft werden‹ (BTDrs 14/4722, 68). Grds entspricht der Beschwerderechtszug (Ausgangsentscheidung – sofortige Beschwerde – Rechtsbeschwerde) nunmehr demjenigen der Hauptsache. Allerdings eröffnet die sofortige Beschwerde anders als die Berufung eine volle zweite Tatsacheninstanz (vgl § 571 II), während die neu eingeführte Rechtsbeschwerde revisionsähnlich ausgestaltet ist. Die weiteren wesentlichen Neuerungen der ZPO-Reform waren die generelle Befristung der Beschwerde (§ 569 I), das als Sollvorschrift ausgestaltete Begründungserfordernis (§ 571) nebst Präklusionsmöglichkeit (§ 571 III), die Abhilfemöglichkeit des Ausgangsgerichts (§ 572 I) sowie der originäre Einzelrichter (§ 568). Zuständig für sofortige Beschwerden gegen Entscheidungen des AG ist das LG (§ 72 GVG), soweit nicht die Ausnahmetatbestände des § 119 I Nr 1 GVG eingreifen; in diesen Fällen ist das OLG zuständig (§ 119 I Nr 1 GVG). Rechtsbeschwerdegericht ist nunmehr ausschließlich der BGH (§ 133 GVG). Ob dadurch das Beschwerdeverfahren ›gestrafft‹ und ›beschleunigt‹ worden ist (vgl BTDrs 14/4722, 68), kann mit guten Gründen bezweifelt werden (s Erl zu § 574).
III. Ähnliche Rechtsbehelfe.
1. Erinnerung.
Rn 4
Die Erinnerung (zB §§ 573, 766; § 11 I 2 RPflG) ist kein Rechtsmittel, sondern ein Rechtsbehelf. Sie wird vom Richter des Ausgangsgerichts beschieden und gelangt nicht in die höhere Instanz. Die Entscheidung über die Erinnerung kann mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar sein (nicht im Falle des § 11 II RPflG). Neben den gesetzlich geregelten Rechtsbehelfen gibt es eine Reihe formloser Rechtsbehelfe, die ebenfalls auf eine Änderung der angegriffenen Entscheidung durch das Ausgangsgericht selbst gerichtet sind. Weil sie gesetzlich nicht geregelt und in Voraussetzungen und Rechtsfolgen unklar sind, gehören sie nicht zum ›Rechtsweg‹, dessen Erschöpfung § 90 II 1 BVerfGG fordert (BVerfG NJW 03, 1924, 1928 = BVerfGE 107, 395 [BVerfG 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02]).
2. Außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit.
Rn 5
Die außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit ist in der Rspr des Bundesgerichtshofs für ›Ausnahmefälle krassen Unrecht‹ entwickelt worden. Ein an sich unanfechtbarer Beschl konnte mit der außerordentlichen Beschwerde angegriffen werden, wenn er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrte und inhaltlich dem Gesetz fremd, mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar war (BGHZ 109, 41, 43 f = NJW 90, 840 f; BGHZ 119, 372, 374 = NJW 93, 135, 36; vgl bereits BGHZ 28, 349, 350). Seit Inkrafttreten des ZPO-Reformgesetzes am 1.1.02 gibt es die außerordentliche Beschwerde nicht mehr, nachdem der Gesetzgeber sie nicht in das neugefasste Beschwerderecht aufgenommen hatte (BGHZ 150, 133, 135 f = NJW 02, 1577; NJW 03, 3137, 3138; BGHZ 159, 14, 18 = NJW 04, 2224; RdL 13, 80 Rz 5; WM 21, 197 Rz 1...