Rn 8
Bei erfolgreichem Rechtsmittel hat grds der Rechtsmittelgegner nach § 91 die Kosten zu tragen. Eine Ausnahme hiervon enthält Abs 2. Danach sind die Kosten eines Rechtsmittelverfahrens dem obsiegenden Rechtsmittelführer ganz oder tw aufzuerlegen, soweit das Rechtsmittel aufgrund neuen Vorbringens Erfolg hatte, das die Partei im früheren Rechtszug hätte vorbringen können. Das neue Vorbringen kann in neuen Klagegründen, neuen oder abgeänderten Klageanträgen, neuen Angriffs- und Verteidigungsmitteln, neuen Beweisanträgen oder sonstigem neuen Vorbringen liegen, das nach § 531 II zuzulassen war.
Voraussetzung ist, dass der Rechtsmittelführer das neue Vorbringen bereits in der Vorinstanz hätte einführen können. Weshalb das Vorbringen oder die Angriffs- und Verteidigungsmittel etc. in 1. Instanz unterblieben sind, ist dabei unerheblich. Die Kostenregelung des Abs 2 ist nicht auf Fälle der Prozessverschleppung, Vorsatz oder Fahrlässigkeit beschränkt. Es ist danach zu fragen, ob eine sorgfältige und auf Förderung des Verfahrens bedachte Partei den Vortrag bereits in 1. Instanz gebracht hätte (Braunschw OLGR 94, 228). Voraussetzung ist, dass der Rechtsmittelführer in der Lage war, das neue Vorbringen bereits erstinstanzlich geltend zu machen. Er muss also Kenntnis gehabt haben oder sich bei gehöriger Anstrengung Kenntnis hätte verschaffen können. Hieran ändert ein ›Mitverschulden‹ des Erstrichters in Form eines unterbliebenen Hinweises nach § 139 nichts (Saarbr OLGR 08, 746).
Neues Vorbringen, das sich erst später ergeben hat oder von dem der Rechtsmittelführer erst später schuldlos Kenntnis erlangt hat, fällt dagegen nicht unter Abs 2.
Erforderlich ist ferner, dass der Rechtsmittelführer aufgrund des neuen Vorbringens obsiegt hat. Daher ist Abs 2 nicht anzuwenden, wenn er ohnehin auch aus anderen Gründen obsiegt hätte, auf die es wegen des neuen Vorbringens jetzt nicht mehr ankommt.
Beispiel:
Der Beklagte hat erstinstanzlich die Forderung bestritten und sich hilfsweise auf Verjährung berufen. Das Gericht gibt der Klage dennoch statt. Im Berufungsverfahren trägt der Beklagte zum Erlöschen des Anspruchs neue Tatsachen vor, die er erstinstanzlich hätte vorbringen können. Daraufhin wird das Urt der Vorinstanz abgeändert und die Klage mangels Bestehens der Forderung abgewiesen.
- Hätte das Berufungsgericht das Rechtsmittel ohne das neue Vorbringen zurückgewiesen, ist Abs 2 anzuwenden.
- Hätte das Rechtsmittel dagegen ohnehin Erfolg gehabt, weil das Berufungsgericht die Verjährungseinrede als begründet angesehen hätte, scheidet Abs 2 aus, weil das Rechtsmittel ohnehin erfolgreich gewesen wäre.
Neues Vorbringen iSd Abs 2 sind insb
- erstmalige Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts, das bereits erstinstanzlich gegeben war,
- erstmalige Erhebung der Verjährungseinrede,
- erstmalige Erhebung der Einrede nach § 2328 BGB – Verweigerungsrecht des selbst pflichtteilsberechtigen Erben (Koblenz 4.9.09 – 10 U 1443/08),
- erstmals gestellter Hilfsantrag auf den hin verurteilt wird (Saarbr OLGR 08, 746),
- Klageänderung, etwa vom Übergang einer bis dahin unzulässigen Feststellungsklage zur Leistungsklage,
- neuer Tatsachenvortrag, der das Klagevorbringen schlüssig oder Einwendungen, gegen die Klageforderung erheblich macht,
- neue Beweismittel, etwa Vorlage von Urkunden.
Dagegen fällt nicht unter Abs 2, wenn sich die Rechtslage zwischenzeitlich geändert hat, also wenn zB im Verlauf des Rechtsmittelverfahrens zwischenzeitlich die Fälligkeit des Anspruchs eingetreten ist oder erstmals eine ordnungsgemäße Rechnung vorgelegt oder eine Abtretung nachgeholt wird. In diesen Fällen ist der Berufungsgegner dadurch geschützt, dass er als Bekl kostenbefreiend anerkennen (§ 93) oder als Kl den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklären kann (s Rn 3).
Das gilt zB auch dann, wenn sich die Berufung nur aufgrund einer inzwischen eingetretenen Gesetzesänderung nach Erlass des angefochtenen Urteils ergibt. Hier muss der Beklagte sofort anerkennen; andernfalls trägt er die Kosten des Verfahrens (BGHZ 37, 233; der Kl muss sofort für erledigt erklären).
Rn 9
Zum Teil wird auch die Auffassung vertreten, dass eine weitere Kündigungserklärung, die zum Erfolg der Klage und des Rechtsmittels führt und die bereits während des ersten Rechtszuges möglich gewesen wäre, zur Anwendung des § 97 II führt (Köln, Urt. v. 4.10.19 – 1 U 83/18; KG KGR 98, 193). Das ist jedoch unzutreffend, da die in zweiter Instanz ausgesprochene Kündigung ja wohl kaum schon in erster Instanz vorgetragen werden kann, abgesehen davon, dass es keine Pflicht zur Kündigung gibt. Der Fall ist vielmehr über § 93 zu lösen, wenn der Beklagte anerkennt.