I. Grundsatz.
Rn 56
Das Verfahrensrecht unterliegt den allg methodischen Regeln und Grundsätzen. Eine eigenständige zivilprozessuale Methodik und Hermeneutik gibt es nicht (Wieczorek/Schütze/Prütting Einl Rz 111). Innerhalb der allg Auslegungs- und Rechtsanwendungsregeln sind freilich die speziellen prozessualen Topoi besonders zu beachten. Besonders bedeutsam sind die allg Ziele und Zwecke des Zivilprozesses (s.o. Rn 3), der Gedanke der Prozessökonomie sowie der Effektivität des Rechtsschutzes, die besondere Formgebundenheit des Verfahrens, sowie der Gedanke der Herstellung des Rechtsfriedens.
II. Auslegung.
Rn 57
Im Einzelnen unterliegen Prozessrechtsnormen nach den klassischen Auslegungskriterien der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung. Zunächst ist vom Wortlaut und Sprachgebrauch der Rechtsnorm auszugehen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die ZPO älter ist als das BGB. Es ist daher nicht in jedem Falle möglich, äußerlich gleichlautende Begriffe in beiden Kodifikationen auch gleich auszulegen (Unterschiede beim Begriff des Anspruchs, des Pfandrechts, des Auftrags an den Gerichtsvollzieher, des Begriffs der Einwendungen und Einreden). Die historische und die systematische Auslegung greifen auf in jeder Hinsicht vergleichbare Erwägungen wie bei der Auslegung des materiellen Rechts zurück. Von zentraler Bedeutung ist schließlich die teleologische Auslegung. Sie fragt nach Sinn und Zweck der einzelnen Prozessrechtsnormen und steht daher in einer engen Verbindung zu den Zwecken des Zivilprozesses im Ganzen. In Einzelfällen können aber auch besondere Sachgesichtspunkte Bedeutung gewinnen wie die Effektivität des Rechtsschutzes, die Verfahrensbeschleunigung, die Prozessökonomie, die Formgebundenheit oder die Justizförmigkeit des Verfahrens. Anerkannt ist im Prozessrecht neben den genannten Auslegungskriterien auch die verfassungskonforme Auslegung.
III. Rechtsfortbildung.
Rn 58
Ebenso wie bei der Gesetzesauslegung gelten auch iRd sog richterlichen Rechtsfortbildung für das Zivilprozessrecht die allg anerkannten methodischen Grundsätze. Unter richterlicher Rechtsfortbildung versteht man die Aufstellung neuer abstrakter Obersätze durch den Richter, die in dieser Weise im geschriebenen Gesetzesrecht oder im Gewohnheitsrecht nicht vorhanden sind. Die Erforderlichkeit richterlicher Rechtsfortbildung iE und ihre Zulässigkeit ist allg anerkannt. Methodisch setzt eine solche Rechtsfortbildung nach wertungsmäßiger Einschätzung eine offene oder verdeckte Gesetzeslücke voraus. Zur Ausfüllung solcher Gesetzeslücken kommen va die Analogie, der Umkehrschluss und die teleologische Reduktion oder Extension in Betracht. Weiterhin sind bei der Rechtsfortbildung die Grenzen verfahrensrechtlicher Leistungsfähigkeit zu beachten. Typische Ausprägungen richterlicher Rechtsfortbildung im Zivilprozess sind die praeter legem entwickelten Rechtsinstitute der gewillkürten Prozessstandschaft, der Parteiänderung und der einseitigen Erledigungserklärung, ferner die Durchbrechung der materiellen Rechtskraft durch eine Klage gem § 826 BGB, darüber hinaus generell alle sog außerordentlichen Rechtsbehelfe (soweit solche überhaupt anzuerkennen sind). Denn es werden sämtliche rechtsfortbildend entwickelten ungeschriebenen Rechtsbehelfe seit der Plenarentscheidung des BVerfG vom 30.4.03 nicht mehr anerkannt (BVerfGE 107, 395; dazu insgesamt Prütting FS Adomeit 08, 571).