Rn 4
Eine Ehescheidung ohne eine gerichtliche Entscheidung wird zunehmend auch im Recht der EU-Staaten zugelassen (Nachw Gruber/Möller IPRax 20, 393, 401; C Mayer StAZ 20, 193 f.; Rieländer FF 21, 9, 15; Sonnentag/Haselbeck IPRax 22, 22; Jayme/Buccianti IPRax 22, 74 [Italien]). Für die Anerkennung von ›Privatscheidungen‹ aus EU-Staaten ist (nach einer nicht unbestrittenen Einteilung) zu differenzieren (dazu Dutta FamRZ 23, 16, 17). (1) Eine Vereinbarung der Ehegatten kann als gerichtliche Entscheidung nach den ab 1.8.22 geltenden Art 30 ff Brüssel II b-VO anzuerkennen sein, wenn sie von einem ›Gericht‹ (was nach Art 2 II Nr 1 Behörden und Notare einschließt, Erw 14) nach einer Prüfung in der Sache nach dem nationalen Recht und nach dem nationalen Verfahren gebilligt worden ist (Makowsky FS Schack [22], 754, 761; Antomo FF 22, 224, 227). (2) Art 65 Brüssel IIb-VO erfasst eine außergerichtliche Scheidung in Form einer öffentlichen Urkunde oder Vereinbarung (Schulz FamRZ 20, 1141, 1148; Kramme GPR 21, 101, 104 ff). Er knüpft zwar an die Vereinbarung selbst an, behandelt sie aber (›quasi verfahrensrechtlich‹) wie eine Entscheidung. Für den ersten Fall des Art 65 (Errichtung oder Eintragung einer öffentlichen Urkunde) ist von der Definition der öffentlichen Urkunde auszugehen (s Art 2 II Nr 2). (3) Eine unter behördlicher Mitwirkung, insb standesamtlicher Beurkundung, erfolgte Scheidung ist davon erfasst (dazu Gruber/Möller IPRax 20, 393, 491f). Eine im Ursprungsland geschlossene Vereinbarung (zweiter Fall, vgl Art 2 II Nr. 3) erfasst etwa eine Scheidungsvereinbarung nach Art 229 ff franz CC (Dutta FamRZ 20, 1428) oder eine eingetragene Scheidungsvereinbarung nach ital Recht (ThoPu/Hüßtege § 107 FamFG Rz 4). Allerdings hat der EuGH eine vor dem ital Standesbeamten errichtete Scheidungsurkunde noch sehr weitgehend als ›Entscheidung‹ iSd Brüssel IIa-VO bewertet (EuGH C-646/20, Senatsverwaltung für Inneres und Sport, FamRZ 23, 21 m krit Aufs Dutta, 16 m Aufs Gruber StAZ 23, 2 u Mayer ZEuP 23, 455 = ECLI:EU:C:2022:879 Rz 54 ff, 64 ff; Antomo/Mayer StAZ 23, 161 ff). Eine reine Privatscheidung ohne behördliche Mitwirkung oder ermächtigte Stelle wird nicht erfasst (Erw 14; Antomo FF 22, 224, 227). – Die Anerkennung einer standesamtlichen ital Scheidung als ›Entscheidung‹ war schon nach der Brüssel IIa-VO möglich (EuGH C-646/20; Vorlagebeschluss BGH FamRZ 21, 119 mAnm Majer = IPRax 22, 63 m Aufs Henrich, 37; BGH FamRZ 23, 1103). S.a. KG StAZ 22, 206 Anm Sonnentag FamRZ 22, 1122 (einvernehmliche Scheidung vor span Notar; Rücknahme der Vorlage EuGH FamRZ 23, 349 Anm Dutta).
Rn 5
Nach Art 64 Brüssel IIb-VO wird eine Zuständigkeit des Ursprungsmitgliedstaats nach den Zuständigkeitsregeln des Kap II (Art 3–21) vorausgesetzt; Dutta FamRZ 20, 1428, 1430; Schulz FamRZ 20, 1141, 1148 f. Die Vereinbarung ist nach Kap IV (Art 30–75) anzuerkennen (Art 65 S 1). Zur Abwehr steht nur der restriktive Katalog der Anerkennungshindernisse des Art 68 II zur Verfügung. Die Einordnung der Anerkennung u der Umfang der Kontrolle sind allerdings umstritten. Teils wird lediglich eine verfahrensrechtliche (Kohler/Pintens FamRZ 19, 1477, 1479 f; Antomo StAZ 20, 33, 43; C Mayer StAZ 20, 193, 199) oder (quasi-)verfahrensrechtliche (Gruber/Möller IPRax 20, 393, 401) Anerkennung der Vereinbarung angenommen. Auch der Umfang dieser Anerkennung ist umstritten. ZT wird lediglich eine Anerkennung in Bezug auf den Beweiswert der Vereinbarung angenommen (C Mayer StAZ 20, 193, 200). Die Unwirksamkeit der Vereinbarung soll auch im Anerkennungsstaat noch geltend gemacht werden können (C Mayer StAZ 20, 193, 200 f; dagegen für den Ausschluss einer Überprüfung, Antomo FF 22, 224, 230; Garber/Lugani NJW 22, 2225, 2230). Tw wird eine Wirkungserstreckung nach der ›Quasikollisionsnorm‹ des Art 65 angenommen (Dutta FamRZ 20, 1428, 1429f). Ungeklärt ist auch, wie weit bei Nichtanerkennung nach Art 65 Brüssel IIb-VO gleichwohl noch eine Anerkennung nach nationalem Recht (ggf nach materiellem Kollisionsrecht) möglich ist (dazu Gruber/Möller IPRax 20, 393, 403).
Rn 6
Die Privatscheidung muss nach dem im Ursprungsland nach nationalem Kollisionsrecht angewendeten Recht wirksam zustande gekommen sein (C Mayer StAZ 20, 193, 200; Dutta FamRZ 20, 1428, 1429 f; Gruber/Möller IPRax 20, 393, 403). Ob eine inhaltliche Überprüfung der Privatscheidung im Anerkennungsstaat stattfindet, ist nicht gesondert geregelt. Allerdings ist eine révision au fond ausgeschlossen (Art 75 Brüssel IIb-VO; C Mayer StAZ 20, 193, 200). Eine Überprüfung der Wirksamkeit der Vereinbarung nach dem Recht des Ursprungslandes soll freilich gleichwohl möglich sein (Dutta FamRZ 20, 1428, 1430). Insoweit wird eine Überprüfung nach dem anwendbaren Recht vorgeschlagen.