Gesetzestext
(1) Dem geschiedenen Ehegatten obliegt es, eine angemessene Erwerbstätigkeit auszuüben.
(2) 1Angemessen ist eine Erwerbstätigkeit, die der Ausbildung, den Fähigkeiten, einer früheren Erwerbstätigkeit, dem Lebensalter und dem Gesundheitszustand des geschiedenen Ehegatten entspricht, soweit eine solche Tätigkeit nicht nach den ehelichen Lebensverhältnissen unbillig wäre. 2Bei den ehelichen Lebensverhältnissen sind insbesondere die Dauer der Ehe sowie die Dauer der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes zu berücksichtigen.
(3) Soweit es zur Aufnahme einer angemessenen Erwerbstätigkeit erforderlich ist, obliegt es dem geschiedenen Ehegatten, sich ausbilden, fortbilden oder umschulen zu lassen, wenn ein erfolgreicher Abschluss der Ausbildung zu erwarten ist.
A. Normzweck.
Rn 1
Die Vorschrift enthält keine Anspruchsgrundlage, sondern eine inhaltliche Beschränkung der Erwerbsobliegenheit, wenn nach §§ 1570 ff eine Erwerbstätigkeit zu erwarten ist (BGH FamRZ 83, 144). Dem (geschiedenen) Ehegatten wird nicht jede Erwerbstätigkeit angesonnen, sondern nur eine ›angemessene‹. Das UÄndG 2008 hat § 1574 I u II infolge der stärkeren Betonung des Grundsatzes der Eigenverantwortung (§ 1569) neu gefasst und damit die Anforderungen an die (Wieder-)Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach Scheidung erhöht. Neu aufgenommen in den Abwägungskatalog wurde eine frühere Erwerbstätigkeit. Hingegen stehen die ehelichen Lebensverhältnisse nicht mehr gleichrangig neben den sonstigen Kriterien zur Bestimmung einer angemessenen Erwerbstätigkeit (Ausbildung, Lebensalter, Fähigkeiten, Gesundheitszustand). Ggf gute Einkommensverhältnisse in der Ehe, die dazu führen konnten, dass eine erlernte einfache berufliche Tätigkeit nicht mehr als angemessen anzusehen war (vgl BGH FamRZ 83, 144), sind nicht mehr mit gleichem Gewicht wie die sonstigen Merkmale zu berücksichtigen, sondern allenfalls in einer zweiten Stufe als Korrektiv iRe Billigkeitsprüfung. Danach bleibt der Schutz eines Ehegatten vor einem sozialen Abstieg aufgrund einer nachhaltigen gemeinsamen Gestaltung der Ehe va also bei einer langen Ehedauer, in der sich bei guten Einkommensverhältnissen eine starke wirtschaftliche Abhängigkeit entwickelt hat, erhalten. Kommt allein die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit in Betracht, die als nicht angemessen anzusehen ist, kann eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden. In Mangelfällen wird § 1574 durch § 1581 eingeschränkt. Dem geschiedenen Ehegatten kann eine über § 1574 hinausgehende Obliegenheit zum Einsatz seiner Erwerbsfähigkeit treffen (BGH FamRZ 83, 569; zu Einzelheiten vgl § 1581 Rn 17). Wird wegen Verstoßes gegen die Erwerbsobliegenheit Einkommen fingiert, bedarf es einer genauen Prüfung, mit welchem Einkommen der Bedürftige nach seinen konkreten persönlichen Eigenschaften bemessen werden kann (BGH NJW 96, 517 [BGH 15.11.1995 - XII ZR 231/94]; vgl iÜ Vor § 1577 Rn 35).
Rn 2
§ 1574 III enthält eine Obliegenheit, sich ausbilden, fortbilden oder umschulen zu lassen, soweit dies zur Aufnahme einer angemessenen Erwerbstätigkeit erforderlich ist.
B. Angemessenheit der Erwerbstätigkeit.
Rn 3
Auch § 1574 I nF beinhaltet durch die Beibehaltung des Terminus ›angemessen‹ eine Einschränkung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit dahin, dass nicht jedwede Tätigkeit aufzunehmen ist. Nimmt der Berechtigte eine untergeordnete Arbeit an, kann sein daraus erzieltes Einkommen als überobligatorisch anzusehen und damit nur teilw anrechenbar sein (BGH FamRZ 05, 1154).
Rn 4
§ 1574 II enthält keinen abschließenden Katalog der Angemessenheitskriterien. Vielmehr sind alle Umstände des Einzelfalls zu prüfen und abzuwägen, wobei allerdings den im G genannten Merkmalen besondere Bedeutung zukommt (BGH FamRZ 20, 21; 05, 23). Ob eine Erwerbstätigkeit als angemessen anzusehen ist und dem Ehegatten insb eine ausreichende berufliche Entfaltung ermöglicht, ist unter Zumutbarkeitskriterien zu prüfen (BGH FamRZ 05, 23). Die Kriterien sind nicht statisch bezogen auf den Scheidungszeitpunkt zu würdigen (BGH FamRZ 08, 2104). Eine angemessene Erwerbstätigkeit kann auch in der Ausübung von zwei Teilzeitbeschäftigungen bestehen (BGH FamRZ 12, 1483).
I. Ausbildung.
Rn 5
Ein leitender Gesichtspunkt für die Angemessenheit ist die berufliche Ausbildung, die ein Ehegatte vor oder in der Ehe genossen hat (BGH FamRZ 05, 23). Bei der Ausbildung kommt es va darauf an, ob es sich um eine abgeschlossene Berufsausbildung (Hochschul- oder Fachhochschulstudium, Fachschulausbildung mit entspr Qualifikation, Handwerkslehre mit Gesellen- oder Meisterprüfung etc) handelt, die zur Aufnahme eines bestimmten Berufs berechtigt. Ist die Berufsausbildung nicht abgeschlossen, so kommt ihr idR keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Eine einmal ausgeübte Beschäftigung ist regelmäßig angemessen, wenn sie der beruflichen Vorbildung oder dem Ausbildungsniveau (BGH FamRZ 91, 416), der Vorbildung oder der selbstgewählten bisherigen beruflichen Entwicklung entspricht (Karls FamRZ 09, 120). Eine Vorbildung ist unbeachtlich, wenn sie keine reale Beschäftigungschance (zum maßgebe...