Rn 43
Ein weiteres wichtiges Kriterium bei der Prüfung des Kindeswohls sind die Bindungen des Kindes. Damit sind die gefühlsmäßigen Neigungen gemeint, die das Kind zu seinen Eltern und Geschwistern, aber auch zu anderen nahestehenden Personen hat (J/H/A/Lack § 1671 Rz 68; vgl Zweibr FamRZ 10, 138). Das Entstehen und Erhalten stabiler emotionaler Beziehungen ist für eine gesunde Entwicklung des Kindes unerlässlich (J/H/A/Lack § 1671 Rz 69). Durch die Trennung der Eltern wird aber fast zwangsläufig die kindliche Beziehungswelt verändert. Deshalb ist es besonders wichtig, dass das Kind seine emotionalen Bindungen möglichst unverändert beibehalten kann. Unter diesem Gesichtspunkt ist derjenigen Sorgeentscheidung der Vorzug zu geben, die die Bindungen des Kindes am wenigsten beeinträchtigt. Vielfach wird eine stärkere Bindung des Kindes zu dem Elternteil bestehen, der sich hauptsächlich um die Betreuung und Versorgung kümmert als zu dem berufstätigen Elternteil, der vergleichsweise wenig Zeit mit dem Kind verbringt. Der zeitliche Faktor darf aber nicht überbetont werden; vielmehr ist die Qualität der Bindung entscheidend (J/H/A/Lack § 1671 Rz 72). Tatsächlich können bei einem kurzen, aber regelmäßigen und intensiven Kontakt ebenso starke Bindungen entstehen. Dies wird oftmals erst mit Hilfe eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens zu klären sein.
Rn 44
Steht die Stärke der Bindungen des Kindes zu seinen verschiedenen Bezugspersonen fest, so kann dennoch problematisch sein, welche Sorgeentscheidung diese Bindungen am besten beachtet. Denn oft bedeutet der Erhalt der stärksten emotionalen Bindung, die Beeinträchtigung oder gar den Verlust anderer ebenfalls wichtiger Beziehungen. Bei der dann erforderlichen Abwägung ist zu prüfen, ob die Trennung des Kindes von seiner Hauptbezugsperson verantwortet werden kann. Für ein Kind zwischen sechs Monaten und drei Jahren soll dies nach überwiegender Meinung grds nicht in Frage kommen, weil dieser Lebensabschnitt als besonders trennungsempfindlich angesehen wird (J/H/A/Lack § 1671 Rz 71 mwN). Später kommt eine Trennung des Kindes von seiner Hauptbezugsperson in Betracht, wenn dieser Verlust durch den Erhalt anderer Bindungen aufgefangen werden kann.
Rn 45
Bei der Bewertung der Bindungen des Kindes und der Abschätzung der Folgen für diese im Falle der einen oder anderen Sorgeentscheidung muss auch berücksichtigt werden, welche Entwicklung diese Bindungen im Hinblick auf die durch die Trennung der Eltern veränderte Situation voraussichtlich nehmen werden. Ein Umzug des antragstellenden Elternteils ins entfernte Ausland bedarf regelmäßig beachtenswerter Gründe (München FamRZ 08, 1774, 1775; FamRZ 09, 1600, 1601).
Rn 46
Die stärkere Bindung des Kindes an einen Elternteil ist auch dann zu beachten, wenn dieser das Kind dem anderen Elternteil abwendig gemacht hat, vorausgesetzt die Bindung besitzt unabhängig von der Einstellung zum anderen Elternteil ihren Wert. Andernfalls wäre dies eine Sanktion gegen das Kind, dessen Bindung an eine Bezugsperson damit übergangen würde. Die unlautere Beeinflussung des Kindes ist jedoch als Umstand zu berücksichtigen, der die erzieherische Eignung des betreuenden Elternteils in Frage stellt und unter diesem Gesichtspunkt der Übertragung des Sorgerechts auf ihn entgegenstehen kann (BGH FamRZ 85, 169, 170).
Rn 47
Durch die Trennung der Eltern verliert das Kind den ständigen Kontakt zu einem Elternteil. Desto wichtiger ist es, dass ihm die anderen Bezugspersonen nach Möglichkeit erhalten bleiben. Dazu zählen va die Geschwister des Kindes, selbstverständlich auch die Halbgeschwister (Hamm FamRZ 96, 562, 563). Denn nicht der Grad der Verwandtschaft, sondern der Erhalt gewachsener sozialer Beziehungen steht im Vordergrund. Eine Geschwistertrennung ist grds zu vermeiden, weil das Zusammenbleiben der Kinder nach Trennung der Eltern das Gefühl einer fortbestehenden Gemeinschaft vermittelt und den Eindruck des Zerbrechens der Familie abdämpft (Hamm FamRZ 00, 1039; vgl auch Celle FamRZ 92, 465; Kobl FamRZ 03, 397; Dresd FamRZ 03, 1489; Brandbg FamRZ 03, 53; 08, 2054; EGMR FamRZ 10, 1046f). Es dient regelmäßig dem Wohl des Kindes, wenn es zusammen mit Geschwistern aufwächst (BayObLG FamRZ 85, 522; Hamm 85, 1078; Celle 92, 465; vgl Brandbg FuR 09, 624). Dies gilt grds auch, wenn die enge Bindung der Geschwister durch Rivalitäten überlagert ist (Celle FamRZ 92, 465, 466). Nur wenn zwischen den Kindern Aggressionen vorherrschen, die das übliche Maß an Konflikten übersteigen, kann die Trennung der Geschwister dem Wohl beider Kinder entspr (Frankf FamRZ 94, 9, 921); ebenso bei besonders enger Bindung an jeweils einen Elternteil (Celle FamRZ 07, 1838). Ebenso kann es zum Schutz eines Kindes erforderlich sein, es von dem schädlichen Einfluss des anderen künftig fernzuhalten. Haben die Kinder nicht zum gleichen Elternteil die stärksten Bindungen, muss sorgfältig abgewogen werden, ob der Geschwisterbindung oder der Elternbindung der Vorzug zu geben ist (vgl BV...