Rn 49
Der Wille des Kindes ist bereits deshalb beachtlich, weil es die Person ist, um die es bei der Sorgeentscheidung geht und die von ihr am stärksten betroffen wird. Das Kind ist nicht Objekt des Sorgeverfahrens. Es ist vielmehr ein Individuum mit eigenen Grundrechten, das keinen Machtansprüchen seiner Eltern unterliegt (BVerfGE FamRZ 86, 769, 772) und das mit zunehmendem Alter ein immer stärkeres Recht auf Selbstbestimmung und freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat (vgl auch BVerfG FamRZ 81, 124, 126; 08, 1737, 1738; Schlesw FamRZ 03, 1494; KG FamRZ 15, 765, 766). Daneben ist der Kindeswille ein wichtiges Indiz für die Bindungen und Neigungen des Kindes (BGH FamRZ 90, 392, 393; BVerfG FamRZ 08, 1737, 1738; KG FamRZ 15, 765, 766; Köln FamRZ 20, 35).
Rn 50
Der Wille des Kindes muss zuverlässig festgestellt werden. Im Allg geschieht dies im Wege der richterlichen Kindesanhörung gem § 159 FamFG, die bereits ab einem Alter von drei Jahren erfolgen sollte (vgl BayObLG FamRZ 83, 948; 84, 312; KG FamRZ 83, 1159; Frankf FamRZ 97, 571; Hamm FamRZ 09, 996; Saarbr FamRZ 18, 1001). Der geäußerte Wille muss freilich nicht zwingend mit dem tatsächlichen Willen des Kindes übereinstimmen (vgl KG FamRZ 19, 1147). Denn es besteht – neben der Möglichkeit der bewussten Manipulation – die Gefahr, dass sich das Kind aus Verlustängsten heraus mit dem Elternteil überidentifiziert, bei dem es seit der Trennung der Eltern wohnt. Von der Anhörung sollte aber dann gem § 159 III FamFG abgesehen werden, wenn deren Erkenntniswert außer Verhältnis zur Belastung für das Kind steht (vgl Rostock FamRZ 07, 1835 10-jähriges Kind: Verzicht der Eltern genügt nicht). Doch zeigt die Erfahrung, dass die Belastung gerade bei Kleinkindern eher von den Eltern als von den Kindern selbst empfunden wird, vorausgesetzt der Familienrichter führt die Anhörung kindgerecht und in einer angstfreien und entspannten Atmosphäre durch. Dazu gehört insb, dass das Kind nicht durch direkte Fragen, die unmittelbar ergebnisorientiert sind, in die Enge getrieben wird. Der Familienrichter muss sich auch damit zufrieden geben, wenn die Anhörung kein für ihn verwertbares Ergebnis bringt. Gerade jüngere Kinder sind oft nicht in der Lage, ihre persönlichen Bindungen zu den Eltern dem Gericht präzise mitzuteilen. Das Kind befindet sich auch in dem Konflikt, dass es sich mit der Entscheidung für einen Elternteil notwendig gegen den anderen Elternteil aussprechen muss; etwas, was es nicht leisten kann (BVerfGE 55, 171, 183 f = FamRZ 81, 124, 127). Der Richter darf auch nicht in den innersten Bereich eines Kindes eindringen, um etwas zu erfahren, was das Kind erkennbar nicht offenbaren will (KG FamRZ 90, 1383).
Rn 51
Lässt sich der (wahre) Wille des Kindes im Wege der Anhörung nicht sicher feststellen, so muss er durch Erholung eines kinderpsychologischen Gutachtens genauer erforscht werden (vgl BVerfG FamRZ 07, 1797). Dazu besteht aber kein Anlass, wenn es lediglich um graduelle Unterschiede im Hinblick auf die Neigung des Kindes zum einen oder anderen Elternteil geht, die sich mit Sicherheit auf die Sorgeentscheidung nicht auswirken werden.
Rn 52
Der zuverlässig festgestellte wahre Kindeswille ist für die Sorgeentscheidung von erheblicher Bedeutung (BVerfG FamRZ 09, 1389; BGH FamRZ 10, 1060; Celle FamRZ 92, 465). Er ist insb entscheidend, wenn sich weder nach dem Förderungs- noch nach dem Kontinuitätsgrundsatz eine bessere Erziehungseignung eines Elternteils feststellen lässt (vgl KG FamRZ 90, 1383; 10, 135, 137; Ddorf FamRZ 88, 13). Doch ist der Kindeswille nur insoweit zu berücksichtigen, als er dem Kindeswohl entspricht (BGH FamRZ 10, 1060; 20, 252; Köln FamRZ 20, 35; BVerfG FamRZ 21, 1201, 1205). Generell ist der Kindeswille aber nur beachtlich, wenn er nicht auf Selbstschädigung gerichtet ist, da sich auch der Kindeswille dem Kindeswohl zu beugen hat (Bambg ZfJ 96, 4; Frankf FamRZ 05, 1700; vgl auch Zweibr FamRZ 05, 745; BVerfG FamRZ 05, 1057; 07, 335; 09, 1389). Auch ist der Wille unbeachtlich, wenn er von unrealistischen Vorstellungen getragen wird, wie etwa, dass der ›gewünschte‹ Elternteil die iRd Umgangsrechts gegebenen ›Sonntagsbedingungen‹ auf den Alltag übertragen werde (Hamm FamRZ 88, 1313; Bambg FamRZ 88, 750). Der beeinflusste Kindeswille hat grds geringere Bedeutung (vgl BGH FamRZ 20, 255; BVerfG FamRZ 21, 1201, 1205), doch kann auch er ausnahmsweise beachtlich sein (Kobl FamRZ 18, 831).
Rn 53
Der Kindeswille allein ist zwar für die Sorgerechtsentscheidung nicht ausschlaggebend, er verdient jedoch mit zunehmendem Alter und dem damit verbundenen Reifeprozess stärkere Beachtung (vgl BVerfG FamRZ 08, 1737, 1738; BGH FamRZ 10, 1060 Rz 31; Frankf FamRZ 09, 990; Brandbg 10, 911, 912; 11, 1993, 1994; 16, 1282; Jena FamRZ 11, 1070, 1071; Köln FamRZ 12, 1654; 20, 35; Celle FamRZ 16, 385, 386; Bambg FamRZ 19, 979). Während der Wille unabhängig vom Alter des Kindes für seine Bindungen und Neigungen stets von erheblicher Bedeutung ist, gilt dies hinsichtlich des Selbstbe...