Prof. Dr. Martin Avenarius
Gesetzestext
1Eine letztwillige Verfügung kann angefochten werden, wenn der Erblasser einen zur Zeit des Erbfalls vorhandenen Pflichtteilsberechtigten übergangen hat, dessen Vorhandensein ihm bei der Errichtung der Verfügung nicht bekannt war oder der erst nach der Errichtung geboren oder pflichtteilsberechtigt geworden ist. 2Die Anfechtung ist ausgeschlossen, soweit anzunehmen ist, dass der Erblasser auch bei Kenntnis der Sachlage die Verfügung getroffen haben würde.
A. Inhaltsirrtum, § 2078 I 1.
Rn 1
Ein Inhaltsirrtum liegt (wie in § 119 I Alt 1) vor, wenn Erblasser bei Errichtung der Verfügung unzutreffende Vorstellungen über die Bedeutung seiner abgegebenen Erklärung hatte, also etwa nicht wusste, was die Anordnung eines Vermächtnisses oder der Nacherbfolge bedeutet (vgl BayObLG NJW-RR 97, 1925), welche Personen von der Einsetzung der ›gesetzlichen Erben‹ erfasst sind (Hamm FamRZ 67, 697) oder welche Folgen die Rücknahme eines Testaments aus amtlicher Verwahrung hat (BayObLG ZEV 05, 480, 481). Die Unkenntnis besserer rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfolgung des auch ansonsten erreichten Gestaltungsziels begründet hingegen keinen Inhaltsirrtum (BayObLG DNotZ 06, 528), ebenso wenig nach der Rspr der Irrtum über die Bindung an wechselbezügliche Verfügungen (Bambg FamRZ 16, 489; München NJW-RR 11, 1020; aA Staud/Otte § 2078 Rz 11). Der Inhaltsirrtum berechtigt zur Anfechtung, wenn der Erblasser (nicht: ein verständiger Dritter) die Verfügung bei Kenntnis der Sachlage nicht errichtet hätte. Das auf Irrtum beruhende Unterlassen einer Verfügung kann nicht angefochten werden (vgl Stuttg ZEV 22, 469 [OLG Stuttgart 27.07.2021 - 8 W 64/21]).
B. Erklärungsirrtum, § 2078 I Alt 2.
Rn 2
Ein Erklärungsirrtum liegt (wie in § 119 I Alt 2) vor, wenn der Erblasser eine Verfügung mit diesem Inhalt überhaupt nicht errichten wollte, sich also etwa verschrieben hat. Er berechtigt zur Anfechtung, wenn der Erblasser (nicht: ein verständiger Dritter) die Verfügung bei Kenntnis der Sachlage nicht errichtet hätte.
C. Motivirrtum und enttäuschte Zukunftserwartung, § 2078 II Alt 1.
Rn 3
Anders als im allgemeinen Anfechtungsrecht berechtigt im Erbrecht auch ein Motivirrtum, also jede irrige Vorstellung über vergangene oder gegenwärtige Tatsachen, oder eine enttäuschte Zukunftserwartung, zur Anfechtung, soweit Irrtum oder Erwartung bereits bei Errichtung der Verfügung bestanden (BGHZ 42, 327, 332; BayObLG FamRZ 03, 708: Kriminelle Vergangenheit des Bedachten; Köln NJOZ 04, 3836: Entwicklung der wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse eines enterbten Kindes). Eine zur Anfechtung berechtigende Enttäuschung einer Erwartung kann auch nach dem Erbfall noch eintreten (Frankf FamRZ 93, 613); die Grenze wird durch die Anfechtungsfrist (§ 2082) gezogen. Das Motiv oder die Erwartungen des Erblassers müssen sich nicht aus dem Testament ergeben, sondern können aus beliebigen Anhaltspunkten ermittelt werden (BGH NJW 65, 584; zu den Anforderungen an den Nachweis BayObLG NJOZ 03, 3267).
Rn 4
Wenn der Erblasser erhebliche Zweifel am Eintritt oder Ausbleiben bestimmter Tatsachen oder Rechtswirkungen hatte, dann nahm er das entspr Risiko offenbar bewusst in Kauf; eine Anfechtung findet dann nicht statt (BeckOKBGB/Litzenburger § 2078 Rz 7); gleiches gilt, wenn er selbst durch Regelungen Vorsorge getroffen hat (BayObLG FamRZ 01, 873).
Rn 5
Hingegen berechtigen auch solche Vorstellungen und Erwartungen zur Anfechtung, die dem Erblasser bei Errichtung der Verfügung zwar nicht bewusst waren, die er ihr aber als selbstverständlich zugrunde gelegt hat (BGH FamRZ 83, 898; NJW-RR 87, 1412; Brandbg FGPrax 22, 75), etwa den positiven Verlauf seiner Ehe (BayObLG FamRZ 90, 322; BayObLG ZEV 04, 152) oder den Fortbestand einer freundschaftlichen Beziehung (BayObLG FamRZ 02, 915) oder eines langjährigen Zwistes (BayObLG NJW-RR 02, 367). Bei einem völligen Fehlen einer Vorstellung oder Erwartung kommt hingegen keine Anfechtung in Betracht (BGH WM 71, 1153).
Rn 6
Irrtum oder enttäuschte Erwartung berechtigen zur Anfechtung, wenn sicher erscheint, dass der Erblasser die Verfügung bei Kenntnis der Sachlage nicht errichtet hätte (BGH NJW-RR 87, 1412; BayObLG NJW-RR 02, 367; FamRZ 03, 1787).
D. Drohung, § 2078 II Alt 2.
Rn 7
Eine Drohung liegt (wie in § 123 I) vor, wenn der Erblasser durch eine beliebige Person rechtswidrig unter Ankündigung eines künftigen Übels, auf dessen Eintritt oder Ausbleiben sich der Drohende Einfluss zuschreibt, zu einer Verfügung veranlasst worden ist. Die Rechtswidrigkeit kann sich aus dem angewandten Mittel, dem verfolgten Zweck oder der Beziehung zwischen Mittel und Zweck ergeben (BGH FamRZ 96, 605), etwa der Drohung mit dem Einstellen von Hilfeleistungen. Die in § 123 I ebenfalls enthaltene Anfechtung wegen arglistiger Täuschung musste nicht gesondert angeordnet werden, weil hier die Anfechtung wegen Motivirrtums möglich ist.
E. Übergehung oder Hinzukommen eines Pflichtteilsberechtigten, § 2079.
Rn 8
Ein im Zeitpunkt des Erbfalls Pflichtteilsberechtigter (§§ 2303, 1923 II) wird dann übergangen, wenn er in der angefochtenen Verfügung überhaupt vom Erblasser nicht erwähnt, also weder enterbt (Hambg FamRZ 90, 910) noch als Erbe eingesetzt noch mit einem Vermächtnis bedacht worden...