Gesetzestext
(1) Hat der Erblasser angeordnet, dass der eingesetzte Erbe die Erbschaft erst mit dem Eintritt eines bestimmten Zeitpunkts oder Ereignisses erhalten soll, ohne zu bestimmen, wer bis dahin Erbe sein soll, so sind die gesetzlichen Erben des Erblassers die Vorerben.
(2) Das Gleiche gilt, wenn die Persönlichkeit des Erben durch ein erst nach dem Erbfall eintretendes Ereignis bestimmt werden soll oder wenn die Einsetzung einer zur Zeit des Erbfalls noch nicht gezeugten Person oder einer zu dieser Zeit noch nicht entstandenen juristischen Person als Erbe nach § 2101 als Nacherbeinsetzung anzusehen ist.
A. Auslegungsregeln.
Rn 1
Es handelt sich um zwei weitere Regeln zur Ergänzung einer unvollständigen letztwilligen Verfügung. Sie benennen den Vorerben, wo der Erblasser dies unterlassen hat, und vermeiden damit herrenlose (ruhende) Erbschaften. In beiden Fällen werden die gesetzlichen Erben des Erblassers zum Zeitpunkt des Erbfalls zu Vorerben berufen.
B. Anwendungsbereich.
Rn 2
I trifft den Fall, dass der eingesetzte Erbe die Erbschaft erst mit einem bestimmten Zeitpunkt erhalten soll, insb unter einer aufschiebenden Bedingung eingesetzt ist (§ 2074; s § 2100 Rn 35).
Rn 3
II trifft den Fall, dass der eingesetzte Erbe die Erbschaft beim Tode des Erblassers noch nicht erhalten kann. Dies tritt ein, wenn der eingesetzte Erbe beim Erbfall noch objektiv unbestimmt ist (zB Ehegatte eines Abkömmlings), nicht aber, wenn er zwar schon objektiv bestimmt und vorhanden, aber nur noch nicht identifiziert ist. Unter II fällt auch die Erbeinsetzung einer beim Erbfall noch nicht gezeugten Person oder einer noch nicht existierenden juristischen Person, nicht aber einer vom Erblasser selbst begründeten Stiftung (s § 2101 Rn 9).
Rn 4
Kein Fall des § 2105 liegt vor, wenn der Erblasser den Zeitpunkt oder den Eintritt der Bedingung für den Nacherbfall noch erlebt. Vielmehr werden dann die Nacherben mit dem Erbfall Vollerben.
C. Widerlegung.
Rn 5
Die Auslegungsregeln greifen nicht, wenn die Auslegung ergibt, dass der Erblasser bestimmte gesetzliche Erben keinesfalls einsetzen, sondern gleich den Nacherbfall eintreten lassen wollte, oder dass er die Anordnung der Nacherbschaft insgesamt entfallen lassen wollte.
Rn 6
Ist die Person des Vorerben unbekannt, weil der eingesetzte Vorerbe nachträglich enterbt worden ist, verzichtet hat, für erbunwürdig erklärt worden ist, ausgeschlagen hat, von einem Dritten unwirksam bestimmt worden ist oder vor dem Erbfall verstorben ist, ohne dass in diesen Fällen ein Ersatzvorerbe berufen ist, so ist durch Auslegung zu ermitteln, was geschehen soll. Die Auslegung kann ergeben, dass die gesetzlichen Erben zu Vorerben berufen sein sollen, dass alsbald der Nacherbe Vollerbe werden soll oder dass die Vor- und Nacherbschaft insgesamt wegfällt (so dass die gesetzlichen Erben alsbald Vollerben werden). Für eine Vorerbschaft der gesetzlichen Erben kann es dabei sprechen, wenn die Anordnung der Vor- und Nacherbschaft bezweckt, die Nacherben auf Zeit vom Nachlass auszuschließen. Ging es dem Erblasser dagegen um die Sicherung des Unterhalts für den Vorerben, so liegt nahe, den Nachlass alsbald dem Nacherben anfallen zu lassen.
D. Fiskus.
Rn 7
Vorerbe kann auch der Fiskus sein; eine Parallele zu § 2104 II gibt es nicht. Wird er das jedoch wider Erwarten des Erblassers, so kommt eine Auslegung in Betracht, wonach die Nacherben schon beim Erbfall Vollerben werden.