Rn 9
Im Bereich der Notwehr findet eine Güterabwägung anders als beim Notstand (§ 228) grds nicht statt (BGH NJW 76, 42 [BGH 23.09.1975 - VI ZR 232/73], Rn 8). Es darf ein höherwertiges Rechtsgut des Angreifers zum Schutz eines geringwertigen Eigenen verletzt werden. Wenn individueller Selbstschutz und Allgemeininteresse nur verhältnismäßig Marginal betroffen sind, ist aber selbst für die Notwehr dieser Grds über die Voraussetzung der ›Gebotenheit‹ (I) oder über § 242 (BGH NJW 09, 2530 [BGH 05.06.2009 - V ZR 144/08] Rz 16: zu § 859) eingeschränkt. Freilich lässt sich die Grenze zwischen scharfem Selbstschutz, der noch erlaubt ist, und unerträglichem Missverhältnis, das nicht erfasst ist (MüKo/Grothe Rz 20), kaum abstrakt abstecken. Öfter wird nach einem krassen Missverhältnis zwischen angegriffenem und verteidigtem Rechtsgut gefragt (vgl BayObLG NJW 95, 2644; Hamm NJW 72, 1826, 1827 [OLG Hamm 01.08.1972 - 3 Ss 224/72]). Daher darf grds nur nach Androhung und einem Warnschuss gezielt geschossen und müssen möglichst die Beine anvisiert werden (BGH NStZ 87, 322 [BGH 12.03.1987 - 4 StR 2/87]), wenn das unter den konkreten Umständen zumutbar ist, weil eine hohe Erfolgsaussicht und Überlegungszeit bestehen (vgl BGH NStZ 13, 105, 106: zum Messereinsatz ggü Unbewaffnetem) und keine weitere Eskalation droht (BGH NJW 12, 272, 274: zu Schüssen durch die Tür eines ›Hells Angels‹ zur Abwehr eines vermeintlichen Angriffs durch ›Bandidos‹). Ggü einem Obstdieb darf kein tödlicher Schusswaffengebrauch geübt werden (s.a. Braunschw MDR 47, 205); beim Dieb, der zuvor einen Zigarettenautomaten aufgebrochen hat, gilt schon wieder anderes (Hamm VersR 77, 934). Ggü Kindern und Geisteskranken wie auch innerhalb besonderer persönlicher Verhältnisse zB der Ehe (BGH NJW 69, 802 [BGH 26.02.1969 - 3 StR 322/68]; 75, 63) können gem § 242 besondere Einschränkungen des Notwehrrechts bestehen. Das gilt auch, wenn der Angegriffene sich sehenden Auges in Gefahr begeben oder selbst zuvor den Angreifer provoziert hat (BGH NJW 13, 2133 [BGH 25.04.2013 - 4 StR 551/12] Rz 27): Wer den gegen ihn geführten Angriff herausgefordert hat, um den Angreifer unter dem Deckmantel einer äußerlich gegebenen Notwehrlage an seinen Rechtsgütern zu verletzen, muss eine Einschränkung seiner Notwehrbefugnis ebenso hinnehmen wie wenn der Täter den Angriff durch ein rechtswidriges Verhalten im Vorfeld (zB Beleidigungen des Angreifers) mindestens leichtfertig provoziert hat (aA Jauernig/Mansel Rz 7). In einem solchen Fall ist es dem Täter zuzumuten, dem Angriff nach Möglichkeit auszuweichen. Vermag er dies nicht, kann er – je nach der Stärke der ihm anzulastenden Provokation und dem Gewicht des beeinträchtigten Rechtsguts – auch Beschränkungen bei der Auswahl der Abwehrmittel unterliegen. War die Provokation besonders stark, muss der Verteidiger unter Umständen auf eine einen sicheren Erfolg versprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, dass ein milderes Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen bietet (BGH NStZ-RR 13, 139, 141 [BGH 27.09.2012 - 4 StR 197/12]); nach einiger Zeit steht wieder das volle Notwehrrecht zu (BGH NJW 08, 571 [BGH 30.10.2007 - VI ZR 132/06] Rz 17).