Rn 64
Verwirkung setzt zunächst voraus, dass zwischen der ersten Möglichkeit der Geltendmachung des betreffenden Rechts und seiner tatsächlichen Geltendmachung ein längerer Zeitraum verstrichen ist, währenddessen der Berechtigte untätig geblieben ist: ›Zeitmoment‹. Der Zeitablauf allein genügt für den Eintritt der Verwirkung jedoch nicht, vielmehr müssen weitere Umstände vorliegen, welche die späte Geltendmachung des Rechts als treuwidrige Härte erscheinen lassen: ›Umstandsmoment‹ (BGHZ 146, 217, 220, 224 f; BGH NJW 03, 824 [BGH 14.11.2002 - VII ZR 23/02]; BAG AP Nr 6 zu § 108 InsO Rz 40; BGH NJW 14, 1230 [BGH 23.01.2014 - VII ZR 177/13] 13f). Das Verhältnis beider Momente zueinander ist letztlich offen; regelmäßig wird angenommen, dass eine kürzere Zeitspanne durch schwerwiegendere Umstände ausgeglichen werden könne und umgekehrt (BGH NJW 93, 918, 921 [BGH 23.09.1992 - I ZR 251/90]; BGH GRUR 01, 323, 327 [BGH 19.12.2000 - X ZR 150/98]; BeckRS 19, 3501). Der schlichte Zeitablauf genügt aber – anders als bei der Verjährung – gerade nicht (OLG-Rspr Saarbr 06, 613, Rz 31 ff [Freistellung von Erschließungsbeiträgen nach 13 Jahren]; BAG NZA-RR 11, 609 [BAG 20.04.2011 - 4 AZR 368/09] Rz 24 [korrigierende Rückgruppierung nach 14 Jahren]).
Rn 65
Die für das Zeitmoment maßgebende Frist beginnt mit Entstehen der Rechtsposition (BGH NJW-RR 06, 235, 236 [für wiederholte gleichartige Störungen daher in jedem Einzelfall; offen gelassen für Dauerstörungen]; BAG AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 64 Rz 42 [keine Geltendmachung von Versorgungsansprüchen noch während des Arbeitsverhältnisses erforderlich]; BGH GRUR 13, 1161 [BGH 15.08.2013 - I ZR 188/11] Rz 22 [mit jeder Verletzungshandlung]) sowie der Fälligkeit (BGH NZG 12, 1189 [BGH 19.06.2012 - II ZR 241/10] Rz 22; BGH NZA-RR 15, 371 Rz 71). Die Zeitspanne lässt sich nicht in festen Zahlen ausdrücken. Sie richtet sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls (BGHZ 146, 217, 224 f; BAG NZA-RR 03, 253, 254). Wichtiger Anhaltspunkt bei der Konkretisierung ist zunächst eine einschlägige Verjährungs- oder Ausschlussfrist (BGH NJW 07, 1273, 1275 [BGH 22.11.2006 - XII ZR 152/04] zu § 1585b II, III); je kürzer eine solche Frist ist, desto weniger wird Raum für die Verwirkung sein (BGHZ 103, 62, 68), bei der kurzen regelmäßigen Verjährung von drei Jahren kommt eine Abkürzung dieser Frist nur bei ganz besonderen Umständen in Betracht (BAG NJW 15, 2061 [BAG 11.12.2014 - 8 AZR 838/13] Rz 26), bei Unverjährbarkeit sind die Anforderungen an die Verwirkung extrem hoch (BGH NJW 07, 2183 [BGH 16.03.2007 - V ZR 190/06] [›schlechthin unerträglich‹]; BGH NJW-RR 14, 712 [jahrzehntelange Gestattung unter Grundstück verlegter Leitungen führt nicht zur Verwirkung des Widerrufs der Gestattung]). Die ›Waffengleichheit‹ der Parteien kann zu einer Abstimmung der Zeitspannen über § 242 führen (BSG BeckRS 13, 69329 Rz 10). Zudem ist auch die Komplexität des Sachverhalts bei der Bestimmung der Zeitspanne mit zu berücksichtigen (BAG NJOZ 12, 665 [keine Verwirkung der Rechte aus vertraglicher Bezugnahme auf Tarifvertrag 6 1/2 Monate nach Betriebsübergang]). Praktische Bedeutung hat ferner der Ablauf von handels- und steuerrechtlichen Aufbewahrungsfristen (§ 257 HGB, § 147 II AO 1977); die Differenz zwischen diesen Fristen und den bisweilen längeren Bearbeitungszeiten der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder für die Prüfung von Schlussrechnungen aus Bauaufträgen droht Bauunternehmer als potentielle Schuldner eines Rückforderungsanspruchs in eine schlechte prozessuale Lage zu bringen (Hambg BB 84, 14, 16 [OLG Hamburg 25.02.1983 - 1 U 94/82]; ausf zur Problematik Hahn ZfBR 82, 139 ff). Vergleichsweise kurze Fristen sind insbes bei Ansprüchen aus Dauerschuldverhältnissen in Betracht zu ziehen (vgl § 556 III; zu den meist kurzen tariflichen Ausschlussfristen vgl Löwisch/Rieble TVG § 1 Rz 1637 ff); das gilt insbes in Fällen der Nichtgeltendmachung von Unterhaltsansprüchen (BGHZ 103, 62, 70; 105, 250, 256 f; BGH NJW 10, 3714 Rz 23; NJW 18, 1013). Bei turnusmäßig anzupassenden Betriebsrenten kommt eine Verwirkung von Nachforderungen wegen zu geringer Anpassung hingegen regelmäßig nicht vor dem nächsten Anpassungsstichtag in Betracht (s BAG AP Nr 55 zu § 16 BetrAVG). Bei Gestaltungsrechten kann eine Verwirkung sogar schon nach wenigen Wochen eintreten; §§ 314 III, 626 II sind gesetzliche Bsp dafür. Es gibt aber keinen allg Grundsatz, wonach Gestaltungsrechte generell nach kurzer Frist verwirkt sind (BGH NJW 02, 669 [BGH 18.10.2001 - I ZR 91/99]). Bei einem wegen fehlerhafter Widerrufsbelehrung unbefristeten Verbraucherdarlehensvertrag kommt nach der Rspr des EuGH Verwirkung nicht in Betracht (EuGH 9.9.21 – C-155/20 = ECLI:EU:C:2021:736 Rz 113–118). Das macht eine Kurskorrektur des BGH erforderlich (BeckRS 19, 28974 [Zeitmoment jedenfalls dann gegeben, wenn seit Vertragsschluss 8½ Jahre und seit Ablösung mehr als 3 Jahre vergangen sind]; zur Treuwidrigkeit des Widerrufs aus anderen Gründen s Rn 58). Bei Rech...