Rn 42
Niemand soll aus seinem eigenen unredlichen Verhalten rechtliche Vorteile ziehen dürfen (BGHZ 122, 163, 168): nemo auditur propriam turpitudinem allegans. Daher kann sich ein Berechtigter auf sein Recht nicht berufen, wenn er dieses unter Verstoß gegen § 242 erworben hat. Dieses Prinzip ergänzt die positiv-rechtlichen Regeln, insbes §§ 134, 138, welche den rechtswidrigen Erwerb einer Rechtsposition unterbinden; es findet daher nur nachrangig Anwendung (s § 134 Rn 30 u § 138 Rn 7). Als gesetzliche Ausprägung gilt § 162 II (s § 162 Rn 1); ebenfalls hierher gehört § 79 II BVerfGG. Die unredliche Vereitelung von Rechten der Gegenpartei ist entspr zu behandeln: Die treuwidrig handelnde Seite muss sich so behandeln lassen, als sei die betreffende Rechtsposition entstanden (vgl § 162 I, § 815).
Rn 43
Bsp für den unredlichen Erwerb der eigenen Rechtsposition sind etwa der Fall der Berufung auf einen unter Missbrauch der Vertretungsmacht geschlossenen Vertrag bei Kenntnis des Missbrauchs (BGH NJW 02, 1497, 1498 [BGH 30.01.2002 - IV ZR 23/01]; NJW-RR 08, 977 [BGH 27.02.2008 - IV ZR 270/06]; s § 164 Rn 67–73), die Berufung auf die Zurechnung von Vertreterwissen nach § 166 I, obwohl damit zu rechnen war, dass der Vertreter sein Wissen dem Geschäftsherren vorenthalten werde (BGH WM 68, 440, 441; BGH NJW 13, 2015 [BGH 19.03.2013 - XI ZR 46/11] Rz 27) oder der Rechtserwerb durch arglistige Täuschung, sofern das Recht nach Ablauf der Frist aus § 124 durchgesetzt werden soll (NK/Krebs § 242 Rz 76; Jauernig/Mansel § 242 Rz 45). Hierher gehört auch die treuwidrige Herbeiführung des Garantiefalls (BGH NJW 01, 282) oder des Sicherungsfalls bei anderen Sicherheiten (BGH NJW 02, 1493 [Bürgschaft]; BGH ZIP 04, 1589 [Bürgschaft]; s § 765 Rn 61 f) sowie die Erhöhung des Ausfallrisikos durch Aufgabe anderer Sicherheiten seitens des Gläubigers (§ 776; Schmidt-Kessel Gläubigerfehlverhalten § 6 III 2, IV 2; anders für Pfandrechte BGH BB 91, 500, 501). Zu nennen ist zudem für das Gesellschaftsrecht das Erschleichen eines unanfechtbaren Gesellschafterbeschlusses (BGHZ 101, 113, 120), für das Arbeitsrecht das Erschleichen einer unverfallbaren Versorgungsanwartschaft (BAG BeckRS 14, 72449 Rz 41), das Vorenthalten von Vergünstigungen aus einem kollektiven System der betrieblichen Altersversorgung zulasten einzelner ArbN (BAG NZA 22, 852 [BAG 02.12.2021 - 3 AZR 123/21] Rz 56 ff) und eine Bewerbung mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das AGG geltend zu machen (BAG NZA 16, 1394 [BAG 19.05.2016 - 8 AZR 470/14] Rz 33; EuGH, C-423/15 Rz 35 ff; BAG BeckRS 17, 112923 Rz 132), für das Versicherungsrecht eine gegen § 213 VVG verstoßende Erhebung von Gesundheitsdaten des Versicherers, die zur Grundlage einer Arglistanfechtung gemacht wird (BGH NJW 3235 [in casu offen gelassen]), für das Wettbewerbsrecht die Geltendmachung von Vertragsstrafen aus einem Unterlassungsvertrag, der auf einer missbräuchlichen Abmahnung beruht (BGH NJW 19, 2024 [BGH 14.02.2019 - I ZR 6/17] Rz 33 [ergänzend zu dem nur ex nunc wirkenden Kündigungsrecht gem § 314 I]; entspr für das Urheberrecht BGH GRUR 20, 1087 [BGH 28.05.2020 - I ZR 129/19]), sowie für den prozessualen Bereich die Verhinderung rechtzeitiger Klageerhebung (BGH MDR 81, 737) oder die Herbeiführung der Verjährungshemmung, indem der Mahnbescheid die bewusst wahrheitswidrige Erklärung gem § 690 I Nr 4 ZPO enthält, die Gegenleistung sei bereits erbracht (BGH NJW 12, 995 [BGH 21.12.2011 - VIII ZR 157/11] Rz 7 ff; BGH NJW 14, 3435 Rz 11; NJW 15, 3160 [BGH 23.06.2015 - XI ZR 536/14]) oder indem eine Gütestelle angerufen wird, obwohl der Antragsgegner zuvor mitgeteilt hat, sich nicht auf eine außergerichtliche Einigung einzulassen (BGH NJW 16, 233 [BGH 28.10.2015 - IV ZR 526/14]; BGH NJOZ 16, 1251 Rz 17). Ebenfalls hierher gehören die vertragsrechtlichen Fälle des Gestaltungsmissbrauchs (BAG NJW 14, 1551; BAG NZA 11, 1147 [BAG 09.03.2011 - 7 AZR 657/09] Rz 21; BeckRS 15, 73044 [Umgehung von § 14 II TzBfG durch Zusammenwirken mehrerer verbundener Arbeitgeber]) und des Wechsels der Steuerklasse zur Benachteiligung des Vertragspartners (BGH NJW-RR 06, 569 [BGH 04.10.2005 - VII ZB 26/05]; BAG NJW 08, 2606 [BAG 23.04.2008 - 10 AZR 168/07]; anders für das Elterngeld BSG NJW 10, 1485 [BSG 25.06.2009 - B 10 EG 3/08 R]) sowie die Ersetzung einer auf verfassungswidrigen Normen beruhenden Forderung durch ein Vereinbarungsdarlehen (BGH NJW 13, 1776, Schutz der Wertung von § 79 II BVerfGG).
Rn 44
Die unredliche Inanspruchnahme aus einem rechtskräftigen Urt wird hingegen nicht als unzulässige Rechtsausübung angesehen, sondern nur unter den Voraussetzungen von § 826 untersagt (s § 826 Rn 53; NK/Krebs § 242 Rz 76); dasselbe Ergebnis ließe sich allerdings auch unter § 242 erreichen. Kein Fall unredlicher Inanspruchnahme liegt indes vor, wenn ein ArbN nach einer Kündigungsschutzklage auf einem vorläufig vollstreckbaren Weiterbeschäftigungsanspruch beharrt und deshalb den Abschluss eines sog Prozessar...