Rn 76
Es gibt wenigstens noch eine Gruppe von Fällen, bei denen der Schadensersatz beschränkt werden muss. Ein Beispiel bildet BGH NJW 76, 1143, 1144 [BGH 03.02.1976 - VI ZR 235/74]: Jemand erleidet einen Stammhirnschaden mit der Folge von Lähmungen und Sprachstörungen durch bloße Beleidigungen und leichte Tätlichkeiten, oder ein Unfallverletzter wird vom Arzt grob fehlerhaft behandelt, dazu Wertenbruch NJW 08, 2962 [OLG Koblenz 24.04.2008 - 5 U 1236/07]. Hier könnte man das Fehlen von Adäquanz annehmen (o Rn 52), doch mag das wegen der Unbestimmtheit des ›optimalen Beobachters‹ zweifelhaft sein (o Rn 55). Zudem erfasst die Annahme von Inadäquanz eine Besonderheit mancher Fälle nur unvollkommen: Der Schaden entsteht aus einer extremen dauernden Schwäche des Geschädigten; er wäre wahrscheinlich ohnehin einmal entstanden, und zwar womöglich ohne das Verschulden eines anderen. Der deutlichste Fall dieser Gruppe ist BGH NJW 68, 2287 f [BGH 07.06.1968 - VI ZR 1/67] (Schadensersatz dort abgelehnt, weil der Schaden nicht im Schutzbereich des § 823 I liege): Bei der Behandlung eines Unfallverletzten wird eine schon vorhandene Hirnarteriosklerose entdeckt und dieser daher in den Ruhestand versetzt. Andere Anwendungsfälle sind etwa Karlsr VersR 66, 741: Ein versehentlicher Tritt auf den Fuß führt wegen einer arteriellen Störung zur Notwendigkeit einer Oberschenkelamputation; Karlsr MDR 93, 29; KG VersR 87, 105 Herzinfarkt eines Tierhalters wegen einer Balgerei zwischen Hunden; Nürnberg r+s 06, 395: Schlaganfall des Vaters, der nach Unfall der Tochter (leichte Prellungen) zum Unfallort gerufen wird. Diese Fälle bedeuten eine Einschränkung der Regel, der Schädiger müsse den Geschädigten mit allen seinen Schwächen hinnehmen (vgl BGHZ 132, 341, 345 und o Rn 50).
Rn 77
Auch bei Sachgütern kann eine extreme Empfindlichkeit zur Verneinung eines Ersatzanspruchs führen. So hatte schon RGZ 158, 34 einen Ersatzanspruch verneint, wenn Silberfüchse auf ein normales Flugzeuggeräusch schädlich reagieren. Gleiches gilt für eine durch das Geräusch eines Verkehrsunfalls ausgelöste ›Panik im Schweinestall‹ bei Massentierhaltung (BGHZ 115, 84, 87).
Rn 78
Hierzu zählte die ältere Rspr (BGH NJW 89, 2317 [BGH 04.04.1989 - VI ZR 97/88] mwN; BGH NJW 15, 1451 [BGH 27.01.2015 - VI ZR 548/12]) auch die Schockschäden durch die Nachricht über einen oder durch Anblick von einem Unfall, bei dem ein naher Angehöriger verletzt oder getötet wird, wenn diese Beeinträchtigungen den ›Rahmen nicht überschreiten, den solche Nachrichten oder Wahrnehmungen gewöhnlich mit sich bringen‹ (erst die sog ›Trauer über das normale Maß‹ löste ein Schmerzensgeld aus). Dies erschien fraglich, die Frage nach dem ›Normalen‹ in der ungewöhnlichen Situation, dass Angehörige, vielleicht sogar die eigenen Kinder, plötzlich unfallbedingt versterben, war zynisch und verletzte die Hinterbliebenen unnötig. BGH, NJW 23, 983 [BGH 06.12.2022 - VI ZR 168/21], hat dann auch klargestellt, dass jede unfallbedingte psychische Störung eines Hinterbliebenen nach einem Todesfall eine Haftung auslöst, ohne dass es auf das einschränkende Erfordernis einer über das ›normale‹ Maß hinausgehenden Beeinträchtigung ankommt. Im Fall eines solchen Schocks ist dann auch ein Verdienstausfall (etwa aufgrund Krankschreibung nach Erhalt der Todesnachricht) ersatzfähig, Frankf NJW-RR 13, 140 [OLG Koblenz 23.07.2012 - 5 U 497/12]. Zum Schockschadenschmerzensgeld s § 253 Rn 2; zum Hinterbliebenengeld im Todesfall § 844 Rn 26 ff.
Rn 79
Erklären kann man die Nichtgewährung von Schadensersatz in derartigen Fällen (seit o Rn 76) mit einer Nichterfüllung der Anspruchsnorm (so wohl Lange/Schiemann § 3 X 1c): Solche Beeinträchtigungen würden im Verkehr nicht als Verletzung von Körper oder Gesundheit aufgefasst (sie seien ›sozialadäquat‹). Vorzugswürdig dürfte aber die Bildung einer eigenen Kategorie des ersatzlos bleibenden allg Lebensrisikos sein (vgl schon o Rn 60). So hat BGH NJW 12, 2964 [BGH 10.07.2012 - VI ZR 127/11] es als – entschädigungslos hinzunehmende – Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos angesehen, wenn im Fall einer Erwerbsunfähigkeit nach dem Unfall der Geschädigte den Unfall in einem ›neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit‹ lediglich zum Anlass nehme, den Schwierigkeiten des Erwerbslebens auszuweichen (sog Begehrens- oder Rentenneurose). Ansonsten und im Regelfall sind aber psychische Folgen einer Primärverletzung grds ersatzfähig, etwa die – häufigen – Fälle von Konversionsneurosen, BGH aaO, oder die schockbedingte Fehlverarbeitung eines Unfallgeschehens, sei sie auch mitverursacht durch in der Person des Geschädigten liegende Umstände (BGH VersR 22, 1309: psychische Auswirkungen, da die Geschädigte bereits zwei Unfälle mit Toten miterlebt hatte). Ebenso hat es der BGH dem allgemeinen Lebensrisiko zugeordnet, dass Polizisten nach dem Miterleben eines schweren Unfalls psychisch erkrankten (BGH NJW 07, 2764 [BGH 22.05.2007 - VI ZR 17/06]); andererseits hat er eine Haftung eines Amo...