Rn 19
Für das Vertretenmüssen gelten die allgemeinen Regeln, so dass regelmäßig wenigstens Fahrlässigkeit vorliegen muss (s § 276 Rn 5). Das Vertretenmüssen ist keine – auch keine ›materielle‹ – Haftungsvoraussetzung, vielmehr ist dem Schuldner lediglich die Verteidigung durch Entlastungsbeweis (s Rn 24–26) gestattet; für die Schlüssigkeit bedarf es daher keines gesonderten Vortrags (s Kohler ZZP 05, 25, 28; Zieglmeier JuS 07, 701f). Praktische Bedeutung kann der Entlastungsbeweis jedoch nur bei erfolgsbezogenen Pflichten entfalten (s Rn 25).
Rn 20
Die Ausgestaltung der §§ 280 ff hat tlw zu Unsicherheiten hinsichtlich des Bezugspunktes des Vertretenmüssens geführt. Richtigerweise ist dieser immer die Pflichtverletzung und nie die weiteren Voraussetzungen der §§ 280 II, III, 281–283, 286 (so idS BGHZ 177, 224 Rz 29; BGH NJW 10, 2426 [BGH 14.04.2010 - VIII ZR 145/09] Rz 29; sehr klar auch Ackermann JuS 12, 865, 867; unrichtig ohne Begründung BGH BeckRS 14, 10542 Rz 25); bei § 311a II 2 ist hingegen ausnahmsweise an den Vertragsschluss anzuknüpfen (s BGH NJW 05, 2852, 2853 [BGH 22.06.2005 - VIII ZR 281/04] u 2854), weil es um die entlastende Berücksichtigung eines ›entschuldbaren‹ Irrtums bei Vertragsschluss geht. Vergleichsweise unproblematisch ist noch die Formulierung, dass beim Verspätungsschaden die Verspätung zu vertreten sei (vgl Grüneberg/Grüneberg § 286 Rz 32). Tatsächlich geht es um die Pflichtverletzung, welche seit dem Leistungszeitpunkt fortwirkt; ein später hinzutretendes Vertretenmüssen ist ausreichend (richtig Ackermann JuS 12, 865, 867; s LG Frankfurt aM NJW-RR 04, 1238 [LG Frankfurt am Main 14.11.2003 - 2-11 S 326/02]; MüKo/Ernst § 286 Rz 113). Vor Eintritt der Verzugsvoraussetzungen nach § 286 I–III verhindert allerdings § 287 die Entlastung durch Zufall nicht (s Rn 34 u § 286 Rn 24, 26). Zumindest missverständlich ist die auf § 281 bezogene Formulierung, es gehe um ein Vertretenmüssen des Ausbleibens der Nacherfüllung (s Köln ZGS 06, 77, 78): Vornehmlich geht es vielmehr um das Vertretenmüssen der ursprünglichen Pflichtverletzung. Fehlt es daran, kann das zu vertretende Ausbleiben der Nacherfüllung – etwa deren vorsätzliche Verweigerung (Köln ZGS 06, 77 [in concreto Vertretenmüssen verneint]; vgl BGH NJW 05, 2852, 2854) – allerdings ebenfalls den Schadensersatzanspruch begründen; funktional entspricht dies § 536a I Var 3. Unrichtig ist es schließlich, wenn in den Fällen des § 283 das Vertretenmüssen auf den Umstand nach § 275 bezogen wird (so aber Grüneberg/Grüneberg § 283 Rz 4); vielmehr stehen Unmöglichkeit und zu vertretende Pflichtverletzung nebeneinander (richtig BGH BB 06, 291, 292 [BGH 21.12.2005 - III ZR 9/05]). Die Vorschrift greift nämlich auch in dem Fall, dass der Schuldner zunächst seine Pflicht in zu vertretender Weise verletzt und nachträglich unabhängig davon Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit eintritt (§ 283 Rn 3; vgl § 287 Rn 3).
Rn 21
Kein allgemeiner eigenständiger Entlastungsgrund neben dem Vertretenmüssen ist das Fehlverhalten des Gläubigers (BGH NJW 71, 1747). Insoweit kennt das deutsche Recht keine generelle unclean hands doctrine (s BGH NJW 62, 2198, 2199 [BGH 03.10.1962 - VIII ZR 34/62]). Etwas anderes gilt freilich für Fälle sorgfaltsunabhängiger Haftung, soweit das Fehlverhalten für die Pflichtverletzung des Schuldners ursächlich ist (s § 242 Rn 47 u § 276 Rn 26). Die Erhöhung des schuldnerischen Risikos, bei längerer Vertragsdauer eine Unsorgfältigkeit zu begehen, wird von § 300 I aufgefangen, soweit eine eingetretene Verzögerung auf den Gläubiger zurückzuführen ist (s § 300 Rn 2).
Rn 22
Die va von der Praxis vorangetriebene und in der Rechtslehre vielfach nicht hinreichend nachvollzogene Objektivierung des Vertretenmüssens hat insbes für den Maßstab der Fahrlässigkeit ein neues Problem auftreten lassen: Wo liegt der Unterschied zwischen der Pflichtverletzung nach § 280 I 1 und dem Sorgfaltsverstoß nach §§ 280 I 2, 276 (s Canaris JZ 01, 499, 512; Huber Leistungsstörungen I 1, 6 f; Schapp JZ 01, 583, 584; Riehm, FS Canaris 1079, 1082 ff)? Die – nicht eben befriedigende – Antwort dazu lautet: auf der Rechtsfolgenseite: Wird eine Verhaltenserwartung als Pflicht eingeordnet, muss der Gläubiger, der Schadensersatz verlangt, ihre Verletzung vortragen und ggf beweisen. Begründet die Verhaltenserwartung hingegen eine Sorgfaltsanforderung iSv §§ 280 I 2, 276, ist es Sache des Schuldners, deren Maßgeblichkeit und Einhaltung darzutun und – wiederum – ggf zu beweisen (s jeweils Rn 24). Die weitgehende Austauschbarkeit der Einordnungen gibt dem Richter hier große Spielräume. Heinrichs hatte seinerzeit diese Spielräume dazu genutzt, die bis 2001 bei § 276 II behandelten Fälle in die Kommentierung der Pflichtverletzung bei § 280 zu verschieben (s Palandt/Heinrichs [64. Aufl] § 276 Rz 1); beide Kategorien sind heute weitgehend austauschbar und damit nicht voneinander abgrenzbar. Soweit Schuldverhältnisse überhaupt nur zu sorgfältigem Verhalten verpflichten, insbes im Falle von Schutz...