Rn 54
Im Anwendungsbereich von §§ 1, 2 KSchG ist die Kündigung unwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt, dh nicht durch Gründe in der Person (Rn 55 ff) oder dem Verhalten des ArbN (Rn 65 ff) oder durch dringende betriebliche Erfordernisse (Rn 74 ff) bedingt ist.
1. Personenbedingte Kündigung.
Rn 55
Bei personenbedingter Kündigung gem § 1 II 1 Var 1 KSchG ist anders als bei verhaltensbedingter gem § 1 II 1 Var 2 KSchG (Rn 65 ff) der Kündigungsgrund nicht willensgesteuert (zu Glaubenskonflikt BAG DB 13, 2274; zu Inhaftierung BAG DB 13, 2454; Anspruch auf Altersrente rechtfertigt Kündigung nicht, § 41 S 1 SGB VI). Daher ist keine Abmahnung erforderlich (LAG Ddorf NZA 86, 431 [LAG Düsseldorf 06.03.1986 - 5 Sa 1224/85]). Wichtigster Anwendungsfall ist die krankheitsbedingte Kündigung (Lepke Kündigung bei Krankheit; zu weiteren Fällen Lingemann Kündigungsschutz, 142 ff). Drei Voraussetzungen: (1.) negative Gesundheitsprognose, derzufolge in Zukunft mit erheblichen Fehlzeiten zu rechnen ist, (2.) erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen des ArbG durch diese Fehlzeiten, und (3.) abschließende Interessenabwägung, die der Kündigung nicht entgegensteht (iE Lingemann Kündigungsschutz, 148 ff; Lepke 127 ff). Zu unterscheiden ist zwischen Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen (Rn 56 ff), langanhaltender Erkrankungen (Rn 60) und (krankheitsbedingter) Leistungsminderung (Rn 61). Keine Wirksamkeitsvoraussetzung ist die vorherige Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) nach § 167 II SGB IX (BAG NZA 11, 993 [BAG 24.03.2011 - 2 AZR 170/10]); fehlt es, hat jedoch der ArbG (auch in betriebsratslosen Betrieben, BAG NZA 11, 39 [BAG 30.09.2010 - 2 AZR 88/09]) darzulegen, dass die Durchführung des BEM nutzlos gewesen wäre (Rn 63; BAG NZA 15, 1249 [BAG 13.05.2015 - 2 AZR 565/14]; 15, 612 [BAG 20.11.2014 - 2 AZR 755/13]).
a) Häufige Kurzerkrankungen.
Rn 56
(1.) Sind beim ArbN in den vergangenen zwei bis drei Jahren krankheitsbedingt Fehlzeiten von jeweils mehr als sechs Wochen/Jahr (BAG NZA 10, 398 [BAG 10.12.2009 - 2 AZR 400/08]) aufgetreten, so ist idR die negative Gesundheitsprognose gerechtfertigt, dass auch in Zukunft mit entspr Fehlzeiten zu rechnen ist, es sei denn, die Krankheit ist ausgeheilt oder beruht auf einmaligen Ereignissen, zB Sportunfall (BAG NZA 15, 612 [BAG 20.11.2014 - 2 AZR 755/13]). Maßgeblicher Prognosezeitpunkt ist der Kündigungszugang (Rn 43). Die Kündigung bleibt wirksam, wenn die negative Gesundheitsprognose später wegfällt (zB nach erfolgreicher Therapie), der ArbN hat jedoch bis zum Ende der Kündigungsfrist uU einen Wiedereinstellungsanspruch (Rn 98 f; BAG BB 01, 1586). Umgekehrt wird eine mangels negativer Gesundheitsprognose unwirksame Kündigung nicht wirksam, wenn krankheitsbedingte Fehlzeiten nach Kündigungszugang die Prognose doch rechtfertigen; der ArbG kann nur erneut kündigen (BAG DB 99, 1861).
Rn 57
(2.) Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen sind Betriebsablaufstörungen (zB Stillstand von Produktionslinien, Maschinen, ständig wechselnder Schichtplan, Produktionsausfälle, einzuarbeitendes oder nicht beschaffbares Ersatzpersonal, häufige Überstunden des verbleibenden Personals, Verlust von Kundenaufträgen) oder unzumutbare wirtschaftliche Belastungen (mehr als sechs Wochen Entgeltfortzahlung/Jahr in den vergangenen zwei bis drei Jahren, BAG NZA 21, 1551 [BAG 22.07.2021 - 2 AZR 125/21]; 14, 962 [BAG 23.01.2014 - 2 AZR 582/13]).
Rn 58
(3.) Bei der Interessenabwägung sind zu beachten (BAG NZA 08, 593 [BAG 08.11.2007 - 2 AZR 292/06]; iE Lingemann Kündigungsschutz, 152f): das Ausmaß betrieblicher Beeinträchtigung, die wirtschaftliche Lage des Unternehmens, Verschulden des ArbN bei Herbeiführung der Erkrankung oder Verzögerung der Genesung, betriebliche Sicherheitsrisiken, Überdurchschnittlichkeit der Ausfälle (BAG NZA 95, 1051 [BAG 11.08.1994 - 2 AZR 9/94]); zugunsten des ArbN: fortgeschrittenes Alter, lange störungsfreie Betriebszugehörigkeit, erhebliche Unterhaltspflichten (vgl BAG BB 00, 1300, Anm Lingemann BB 00, 1835), betriebliche Krankheitsursachen (BAG DB 2003, 724).
Rn 59
(4.) Der ArbG muss die negative Gesundheitsprognose darlegen, der ArbN dann konkret dartun, weshalb mit baldiger und endgültiger Genesung zu rechnen ist, und ggf die Ärzte von der Schweigepflicht entbinden. Dann muss der ArbG die negative Gesundheitsprognose durch Vernehmung der Ärzte oder durch Sachverständigengutachten beweisen (BAG NZA 08, 593 [BAG 08.11.2007 - 2 AZR 292/06]).
b) Lang anhaltende Erkrankung.
Rn 60
Die negative Gesundheitsprognose führt zur Störung im Austauschverhältnis, wenn der ArbN zum Kündigungszeitpunkt bereits längere Zeit (BAG NZA 15, 1249: 20 Monate; 93, 498: 18 Monate) infolge Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert und ein Ende der Erkrankung nicht absehbar (BAG BB 00, 49 [BAG 29.04.1999 - 2 AZR 431/98]), jedenfalls aber die Wiederherstellung für längere Zeit ungewiss ist (BAG NZA 15, 1249). Besteht auch für die nächsten 24 Monate keine günstige Prognose für die Genesung, muss eine weitere Beeinträchtigung betrieblicher Interess...