Rn 3
Entscheidend ist, ob dem Kündigenden eine Fortsetzung des Vertragsverhältnisses auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist oder der vereinbarten Vertragslaufzeit nicht mehr zumutbar ist (BAG NZA 19, 1343 [BAG 27.06.2019 - 2 AZR 28/19]; 19, 445; 17, 1179 [BAG 29.06.2017 - 2 AZR 597/16]; st Rspr). IRe zweistufigen Prüfung (BAG aaO) ist (1.) zu prüfen, ob der Sachverhalt an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund darzustellen, und (2.), ob bei Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls und der Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die konkrete Kündigung gerechtfertigt und somit verhältnismäßig ist (BAG NZA 19, 445). Maßgeblich ist regelmäßig die Prognose, ob zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs damit zu rechnen war, dass sich die Gründe (ohne den Ausspruch der Kündigung) zukünftig konkret nachteilig auf das Arbeitsverhältnis auswirken werden, ob also Wiederholungsgefahr besteht (BAG NZA 19, 445; 15, 294). Diese ist bei schwerwiegenden Verstößen in der Vergangenheit idR indiziert (BAG NZA 19, 445 [BAG 13.12.2018 - 2 AZR 370/18]), grds ist jedoch Objektivierung durch erfolglose Abmahnung erforderlich (BAG NZA 21, 1178 [BAG 27.04.2021 - 9 AZR 662/19]; 20, 1405 [BAG 27.02.2020 - 2 AZR 570/19]; § 620 Rn 67 ff). Bei verhaltensbedingten Kündigungen fließen in die Interessenabwägung (Überblick Lingemann Kündigungsschutz, Teil 6 Rz 22) ua ein: Dauer des Dienstverhältnisses ohne Pflichtverletzungen (BAG NJW 17, 843 [BAG 22.09.2016 - 2 AZR 848/15]; NZA 14, 1258; 11, 1027 [BAG 09.06.2011 - 2 AZR 381/10]), Alter (BAG NZA 00, 1335 [BAG 09.11.1999 - 9 AZR 771/98]), Unterhaltspflichten und Familienstand (nur nachrangig, BAG NZA 11, 1342 [BAG 09.06.2011 - 2 AZR 323/10]; NZA-RR 09, 393 [BAG 18.09.2008 - 2 AZR 827/06]; NZA 06, 1033), Art und Schwere der Pflichtverletzung (zB besondere Verwerflichkeit), Grad des Verschuldens (BAG NZA 14, 1258; DB 12, 2404), entstandener Schaden (BAG NZA 06, 1033), Auswirkungen des Fehlverhaltens auf andere ArbN im Betrieb (BAG NZA 04, 486 [BAG 11.12.2003 - 2 AZR 36/03]), Nachahmungsgefahr durch andere ArbN (BAG NZA-RR 12, 12 [BAG 09.06.2011 - 2 AZR 284/10]), mögliche Wiederholungsgefahr (BAG NZA 19, 445 [BAG 13.12.2018 - 2 AZR 370/18]). Ordentliche Unkündbarkeit des ArbN wirkt nicht zu seinen Gunsten (BAG NZA 11, 798 [BAG 27.01.2011 - 2 AZR 825/09]).
Rn 4
Der wichtige Grund erfordert keine subj Komponente, die Pflichtverletzung muss also nicht zwingend schuldhaft sein (BAG NZA 04, 786 [BAG 11.12.2003 - 2 AZR 667/02]). Auch muss sich der zu Kündigende der Unzumutbarkeit nicht bewusst gewesen sein (BAG AP Nr 1 zu § 626 – ›Nachschieben von Kündigungsgründen‹).
Rn 5
Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip darf die außerordentliche Kündigung nur ultima ratio, also das mildeste geeignete Mittel zur Beseitigung der Störung sein (BAG NZA 11, 798 [BAG 27.01.2011 - 2 AZR 825/09]). Das gilt umso mehr bei schuldlosen Pflichtverletzungen, Verdachts- und Druckkündigungen (Rn 9 f) und außerordentlichen betriebsbedingten Kündigungen (BAG NZA 19, 1345 [BAG 27.06.2019 - 2 AZR 50/19]). Hier sind als mildere Mittel auch eine Versetzung oder eine Änderungskündigung (BAG NZA 09, 481 [BAG 27.11.2008 - 2 AZR 757/07]) zu erwägen. Freistellung (§ 611 Rn 94) unter Fortzahlung der Bezüge ist als milderes Mittel jedoch nicht geboten (BAG NZA 01, 837 [BAG 05.04.2001 - 2 AZR 217/00]; aA LAG Ddorf LAGE Nr 120 zu § 626). Außerordentliche Änderungskündigung zur Entgeltabsenkung nur bei existenzbedrohender Lage des ArbG und Sanierungskonzept (BAG NZA 18, 440).
Rn 6
Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen des wichtigen Grundes ist der Ausspruch der Kündigung. Gründe, die bereits zu diesem Zeitpunkt vorlagen, dem Kündigenden aber erst später bekannt wurden, können ungeachtet II 1 nachgeschoben werden (BAG NJW 16, 1901; DB 13, 2805). Auf Gründe, die erst nach Ausspruch der Kündigung auftreten, kann nur eine erneute Kündigung – ggf unter Verwendung auch der alten Kündigungsgründe (BAG AP Nr 1 zu § 67 HGB; vgl auch BAG NZA 04, 921 [BAG 09.12.2003 - 9 AZR 16/03]) – oder im Anwendungsbereich des KSchG ein Auflösungsantrag nach § 13 iVm § 9 KSchG (iE BAG NZA 03, 261 [BAG 07.03.2002 - 2 AZR 158/01]; § 620 Rn 103) gestützt werden. Soweit die Mitarbeitervertretung zu beteiligen ist (Rn 18 f), ist sie zu nachgeschobenen Kündigungsgründen gesondert anzuhören (BAG NZA 97, 1160 [BAG 28.05.1997 - 5 AZR 125/96]); ein Nachschieben scheidet allerdings aus, wenn dem ArbG die Kündigungsgründe bereits zum Zeitpunkt der ersten Anhörung bekannt waren. Bei Kündigung von Organmitgliedern – Geschäftsführer, Vorstand – bedarf das Nachschieben von Kündigungsgründen eines Beschlusses des für die Kündigung zuständigen Organs – Gesellschafterversammlung, Aufsichtsrat, ggf Insolvenzverwalter (BGH DB 05, 1850; NZA 04, 175).