Prof. Dr. Eckart Brödermann
Rn 21
Die Auslegung von Bürgschaftsverträgen erfolgt im Spannungsverhältnis zwischen einerseits der in Art 2 I GG begründeten Vertragsfreiheit für alle Parteien und andererseits der aus dem Sozialstaatsprinzip (Art 20 I, 28 I GG) abgeleiteten Verpflichtung, bei der Konkretisierung der zivilrechtlichen Generalklausel in § 138 I über eine Inhaltskontrolle korrigierend in die Privatautonomie einzugreifen, wenn sich das starke Übergewicht des einen Vertragsteils für den anderen als Fremdbestimmung darstellt (BVerfGE 89, 214, 231–234; ZIP 06, 60, 63; BGHZ 140, 395, 397f). Dies kann insb der Fall sein, wenn ein dem Hauptschuldner durch emotionale Nähe verbundener Bürge einer wirtschaftlich rational handelnden Bank strukturell unterlegen ist (Nobbe/Kirchhof BKR 01, 5, 7) und zugleich von ihr in krasser Weise finanziell überfordert wird. Dabei hängt die Anwendung von § 138 I vom Grad des Missverhältnisses zwischen dem Verpflichtungsumfang und der finanziellen Leistungsfähigkeit des dem Hauptschuldner persönlich nahe stehenden Bürgen ab (zB BGHZ 151, 34, 36f).
Rn 22
Für diese Fälle hat die Rspr die widerlegliche Vermutung entwickelt, dass der Gläubiger die typischerweise gegebene emotionale Beziehung zwischen Bürgen und dem Hauptschuldner in sittlich anstößiger Weise ausgenutzt hat (BGHZ 146, 37, 42 ff u zB 156, 302, 307; NJW 05, 971, 972; 05, 973, 975). Seit der Einführung der Restschuldbefreiung in §§ 286 ff InsO können die Folgen einer krassen finanziellen Überforderung zwar abgemildert werden. Im Ansatz ändert das aber nichts an der Begrenzung der Vertragsfreiheit bei billigender Inkaufnahme eines objektiven Sittenverstoßes (BGH NJW 07, 2671, 2673 [BSG 29.11.2006 - B 6 KA 34/06 B]).
Rn 23
Verstößt der Bürgschaftsvertrag gegen § 138 I, so ist er nichtig. Eine teilweise Aufrechterhaltung des Vertrages scheidet aus (BGHZ 68, 204, 206 f; 136, 347 ff; NJW 00, 1182, 1185). Hat der Gläubiger auf Grund des sittenwidrigen Bürgschaftsvertrags (vor der Leitentscheidung des BVerfG v 1993, Rz 21) einen Titel erlangt, kann er daraus nicht vollstrecken: Keine Perpetuierung des Unrechts. Den Bürgen schützen §§ 767 ZPO, 79 II BVerfGG analog (BVerfG ZIP 06, 60, 64 gegen BGHZ 151, 316, gestützt auf Art 2 I, 3 I GG).
Rn 24
Die Rspr hat insb unter folgenden Voraussetzungen eine Sittenwidrigkeit nach § 138 I angenommen (eine Sittenwidrigkeit nach § 138 II scheidet aus, da es hierfür an dem erforderlichen Leistungsaustausch zwischen Bürgen und Gläubiger fehlt: BGH WM 88, 1156, 1159; NJW 01, 2466, 2467 [BGH 26.04.2001 - IX ZR 337/98]):