Prof. Dr. Eckart Brödermann
a) Krasse finanzielle Überforderung.
Rn 25
Die die Vermutung der Sittenwidrigkeit mit begründende finanzielle krasse Überforderung (vgl Rn 21 f) erfordert ein erhebliches Missverhältnis zwischen der Leistungsfähigkeit des Bürgen und der Gesamthöhe der übernommenen Verbindlichkeit (zB Celle NJW-RR 06, 131, 132: 10.000 EUR, Anm Nielsen EWiR 06, 99: für Bagatellgrenze). Unerheblich ist, ob der Gläubiger nur eine Teilsumme geltend macht (DerlKnopsBa/Knops, § 25 Rz 43; aA implizit Kobl WM 00, 31, 33). Maßgeblich ist das sich aus der Vertragsgestaltung ergebende rechtliche Risiko, sofern es nicht offenbar und hinreichend sicher deutlich herabgesetzt ist (BGHZ 136, 347, 353; 146, 37, 44; 151, 316, 319: ua Nichtberücksichtigung zusätzlich abgetretener Lebensversicherungen; LG Mönchengladbach NJW 06, 67, 68 [LG Mönchengladbach 12.05.2005 - 10 O 333/04]: Nichtberücksichtigung Sicherungseigentum wegen Wertfallrisiko [Motorrad]). Sicherheiten (des Kreditnehmers) sind bei der Sittenwidrigkeitsprüfung nur dann zu berücksichtigen, wenn gewährleistet ist, dass der Gläubiger den Bürgen erst nach einer ordnungsgemäßen Verwertung in Anspruch nimmt (BGH NJW 09, 2671, 2673 [BGH 16.06.2009 - XI ZR 539/07]).
Rn 26
Ein Missverhältnis liegt vor, wenn der Bürge bei lebensnaher Betrachtung aller erwerbsrelevanten Umstände wie zB Alter, Ausbildung, familiäre Belastungen (BGH NJW 05, 971, 972) im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses aus der Sicht eines vernünftigen und seriösen Kreditgebers (BGH NJW 05, 973, 974 [BGH 25.01.2005 - XI ZR 325/03]) nicht einmal in der Lage sein wird (Prognose), die laufenden Zinsen (bei Höchstbetragsbürgschaften nur aus dem Höchstbetrag, BGH NJW 13, 1534 [BGH 19.02.2013 - XI ZR 82/11]) aus dem pfändbaren Teil seines Einkommens und Vermögens bei Eintritt des Sicherungsfalls dauerhaft aufzubringen (BGHZ 146, 37, 42 f; 156, 302, 306; NJW 05, 971, 972). Abzustellen ist auf den Zeitpunkt des Abschlusses der Bürgschaft. Eine spätere verbesserte Leistungsfähigkeit des Bürgen lässt die Sittenwidrigkeit nicht rückwirkend entfallen (Saarbr GmbHR 2009, 263).
Rn 27
Die Leistungsfähigkeit des Bürgen beurteilt sich ausschl nach seinen Vermögensverhältnissen; die Finanzkraft des Hauptschuldners ist unerheblich (BGHZ 146, 37, 43; NJW 02, 2705, 2706; s.a. 05, 973, 975 für den einseitig verpflichteten Mithaftenden). Dem Bürgen ist zuzumuten, dass von ihm bewohnte Eigenheim als einzigen werthaltigen Vermögensgegenstand zur Befriedigung des Gläubigers einzusetzen (BGHZ 152, 147, 151; Tiedtke NJW 03, 1359, 1360).
Rn 28
Auf dem unbeweglichen Vermögen des Bürgen ruhende dingliche Belastungen sind wertmindernd zu berücksichtigen (BGHZ 151, 34, 38 f; BKR 10, 63). Zu beachten sind zB auch etwaige Innenausgleichsansprüche aus § 767 ggü vermögenden Mitbürgen (BGHZ 137, 329, 338) oder ein Freistellungsanspruch des Strohmann-Bürgens aus § 257 iVm § 670 ggü dem Treugeber (aaO 339). Unbeachtlich sind theoretisch denkbare, praktisch aber ganz unwahrscheinliche Ereignisse wie ein Lotteriegewinn oder eine später (nach Vertragsabschluss) erfolgte unerwartete Erbschaft (BGHZ 120, 272, 276).
Rn 29
Bei der Prüfung der Einkommensverhältnisse eines Ehegatten, der für ein Existenzgründungsdarlehen an den anderen Ehegatten bürgen und sein Einkommen ausschl als Angestellter des zu gründenden Unternehmens erzielen soll, dürfen weder unrealistische Marktanalysen für die Unternehmensentwicklung zugrunde gelegt noch darf die künftige Ertragskraft des zu finanzierenden Unternehmens überschätzt werden (BGH NJW 05, 971, 972).
Rn 30
Der Erfahrungssatz, dass sich die Einkommensverhältnisse von Personen idR nicht völlig unerwartet ändern, streitet für eine widerlegliche Vermutung, dass die bei Eintritt des Sicherungsfalles tatsächlich bestehenden Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Bürgens bei Übernahme der Bürgschaft vorhersehbar waren (Nobbe/Kirchhof BKR 01, 5, 10; BGHZ (IX. ZS) 132, 328, 335; s aber auch Nobbe/Kirchhof aaO 15 aE zur offenen Rspr des XI. ZS).
b) Emotionale Verbundenheit.
aa) Grundfälle.
Rn 31
Die Grundfälle, in denen die sittenwidrige Ausnutzung der Gefühlslage eines krass finanziell überforderten Bürgen vermutet wird (Rn 21 f), betreffen Bürgschaften für dem Hauptschuldner nahestehende Personen. Hierzu gehören insb Bürgschaften des Ehegatten (BGHZ 146, 37 ff; NJW 05, 971), der Verlobten (BGHZ 136, 347, 350), des nichtehelichen Lebenspartners (BGH NJW 00, 1182; 02, 744), der Eltern (BGH NJW 01, 2466, 2467), uU eines Geschwisterteils (BGHZ 137, 329, 334 f; abgelehnt in 140, 395, 399f) oder eines gerade erwachsen gewordenen Kindes (BGHZ 125, 206, 213: hier kommt die Ausnutzung der Verletzung der elterlichen Rücksichtnahmepflicht aus § 1618a hinzu; dazu Schimansky/Bunte/Lwowski/Schmitz/Wassermann/Nobbe § 91 Rz 83; BGH NJW 97, 52, 53 [BGH 10.10.1996 - IX ZR 333/95]). Umfassend zur Wirksamkeit von Bürgschaften naher Angehöriger Beck JA 19, 244–252.
bb) Widerlegung der Vermutung.
Rn 32
Der Gläubiger kann die Vermutung sittenwidriger Ausnutzung der emotionalen Verbundenheit (Rn 22) widerlegen. Er kann über die tatsächlichen Vermögensverhältnisse getäuscht worden ...