Rn 35
Die deutschen Gerichte haben die Pflicht zur europarechtskonformen und insb zur richtlinienkonformen Auslegung (vgl Art 4 III EUV). Diese Pflicht verlangt, die Auslegung des Rechts in einer Weise vorzunehmen, dass dabei soweit wie möglich die Vorgaben des unmittelbar geltenden Europarechts sowie der Richtlinien Beachtung finden. Dies setzt voraus, dass der Richter sich bei jeder Anwendung des Rechts auch des Inhalts der zu Grunde liegenden Richtlinie vergewissert und sodann die deutschen Regelungen im Lichte der europarechtlichen Vorgaben auslegt. Bei der Auslegung des europäischen Rechts und ebenso bei der Auslegung des unionsrechtlich determinierten deutschen Privatrechts ergeben sich wichtige Abweichungen und Besonderheiten zur nationalen Rechtsauslegung. Zwar können grds auch hier diejenigen Kriterien herangezogen werden, die im nationalen Recht die Auslegung prägen, also die grammatische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung (BVerfG ZIP 12, 911, 914). In der Praxis sind zusätzlich die Präjudizien des EuGH für die Auslegung von eminent wichtiger Bedeutung. IE gelten allerdings wichtige Besonderheiten, die sich schon bei der Auslegung nach dem Wortlaut sehr deutlich zeigen. So kann der Richter nicht vom deutschen Gesetzestext ausgehen, sondern er muss berücksichtigen, dass die europarechtlichen Texte in allen Amtssprachen in gleicher Weise bedeutsam sind. Zusätzlich gilt es zu beachten, dass das europäische Recht autonom auszulegen ist und von einer autonomen Begrifflichkeit geprägt ist. Es können also normative deutsche Begriffe im deutschsprachigen Text nicht automatisch nach deutschem Rechtsinhalt verstanden werden. Dies gilt selbstverständlich, wenn ein unionsrechtlicher Begriff in das nationale Recht eingefügt worden ist. Es entsteht in diesem Falle also eine unionsrechtliche Prägung eines an sich deutschen Begriffs. Weitere Probleme ergeben sich, wenn der deutsche Gesetzgeber im Bereich europarechtlich geprägter Rechtsbereiche auf nationale Rechtsbegriffe verweist (Hybrid-Begriff). Auch hier wird die Auffassung vertreten, dass der nationale Rechtsbegriff nunmehr europarechtlich zu verstehen ist. Dies kann im Einzelfalle auch bedeuten, dass der Begriff entgegen dem deutschen Recht europarechtliche Beschränkungen erzwingt (vgl für § 13 den Streit, ob der Begriff des Verbrauchers auf natürliche Personen beschränkt ist). Ein weiteres Problem besteht bei einer überschießenden nationalen Gesetzgebung, die die Umsetzung von Richtlinien auf Sachverhalte ausdehnt, die nicht in deren Anwendungsbereich liegen. Auch hier ergibt sich die Frage, ob die Auslegung im Bereich dieser überschießenden Gesetzgebung europarechtlich zu erfolgen hat oder ob es zu einer gespaltenen Auslegung kommt. Überwiegend wird bisher die Auffassung vertreten, dass eine gespaltene Auslegung zulässig sei (vgl statt aller Koch JZ 06, 277, 283). Allerdings kann sich bereits aus innerstaatlichem Recht das Gebot zu einer einheitlichen und damit europarechtskonformen Auslegung ergeben (vgl Art 23 GG). Auch bei der Auslegung von Generalklauseln (§§ 138, 242) ist die europäische Werteordnung zu berücksichtigen (Ritter NJW 12, 1549; aA BAG NJW 12, 1613).
Rn 36
In gleicher Weise wie die grammatische Auslegung ist auch die historische, die systematische und die teleologische Auslegung europarechtskonform vorzunehmen (Gebauer/Wiedmann Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl 10 S. 113 ff). Dabei hat iRd Argumentation nach dem Sinn und Zweck der Norm das Unionsrecht eine überragende Bedeutung. Insb bei Richtlinien ergibt sich aus den vorangestellten Erwägungsgründen idR eine Fülle von Ansatzpunkten, um den Zweck der Richtlinie und damit des gesamten Normenkomplexes zu verdeutlichen. Darüber hinaus wird in der Rspr des EuGH iRd teleologischen Auslegung va auch der effet utile herangezogen und betont. Dies bedeutet, dass das Unionsrecht so auszulegen ist, dass es seine volle unionsrechtliche Wirkung entfalten kann. Es handelt sich bei diesem Auslegungskriterium also um den Grundsatz der Effektivität der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht. Ziel ist die größtmögliche praktische Durchsetzung einheitlicher und unionsrechtlicher Positionen. Umfassend und vertiefend zur europäischen Privatrechtsentwicklung (mit umfangreichen Nachweisen) zuletzt Gebauer/Wiedmann Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl 10; MüKo/Säcker Einl Rz 196 ff; grundlegend ferner Roth in: Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt, Das neue Schuldrecht in der Praxis, 03, S 25 ff. Freilich kontrolliert das BVerfG die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung. Dabei ergibt sich aus dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten zugleich eine Grenze dieser Auslegung (BVerfG 26.9.11, ZIP 12, 911, 914).