A. Entwicklung.
I. Rechtsgrundlage.
Rn 1
Mit dem ProdHaftG wird die EG-Richtlinie zur Produkthaftung (RL 85/374/EWG, ABl 85, L 210/29, geändert durch RL 1999/34/EG, ABl 99, L 141/20) in deutsches Recht umgesetzt. Die zunächst auf Art 100 EWGV aF (Art 115 AEUV), später ergänzend auf Art 95 EG aF (Art 114 AEUV) gestützte RL statuiert eine verschuldensunabhängige Haftung des Herstellers und anderer Verantwortlicher für mangelhafte Produkte. Als Reaktion auf die BSE-Problematik wurden 1999 auch landwirtschaftliche Naturprodukte und Jagderzeugnisse vollständig einbezogen. Weitere Reformen wurden nach den Reaktionen auf ein 1999 von der Kommission vorgelegtes Grünbuch (KOM [99] 396 endg) sowie weiteren Studien zu Einzelfragen zunächst verschoben (KOM [00] 893 endg; KOM [06] 496 endg; KOM [11] 547 endg; KOM [18] 246 endg). 2018 führte die Kommission eine groß angelegte Konsultation mit Blick auf die neuen digitalen Technologien durch und wollte daraus einen umfassenden Leitfaden für die zeitgemäße Anwendung der RL erstellen (KOM [18] 246 endg 2); auch Weiterentwicklungen in Bezug auf Künstliche Intelligenz wurden diskutiert (s insb KOM [20] 64 endg 14 ff). Inzwischen liegt ein Vorschlag für eine umfassende Reform der Produkthaftungsrichtlinie vor (Trilog-Dokument: 2022/0302[COD]), der auch in großem Umfang den aktuellen technischen Entwicklungen Rechnung trägt und eine grundlegende Reform des ProdHaftG erfordern wird.
II. Umsetzung.
Rn 2
Die RL wurde in Deutschland durch das Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsgesetz – ProdHaftG) vom 15.12.89 (BGBl I 2198) umgesetzt; Änderungen erfolgten 2000 (Aufhebung der Ausnahme für landwirtschaftliche Naturprodukte und Jagderzeugnisse) und 2002 (Ausweitung der Ersatzpflicht auf immaterielle Schäden, zur europarechtlichen Bedenklichkeit § 8 Rn 1) sowie (nach einer redaktionellen Änderung des § 17 im Jahr 2015) 2017 (Anfügung von § 7 III). Im Unterschied zu anderen europarechtlich motivierten Verbraucherschutzgesetzen wurde das ProdHaftG bei der Schuldrechtsmodernisierung 2002 nicht in das BGB integriert.
B. Auslegung.
Rn 3
Wegen seines europäischen Ursprungs ist das ProdHaftG richtlinienkonform auszulegen (s insb EuGH Slg 97, I-2649 Rz 37f). Entscheidend ist der mit der RL angestrebte Harmonisierungsgrad (umfassend Schaub ZEuP 11, 41 ff). Wurde zunächst vielfach von einer Mindestharmonisierung ausgegangen (zB Sack VersR 88, 439, 442 mwN; Hohloch ZEuP 94, 408, 427, 430; Th Möllers VersR 00, 1177, 1178; Staud/Oechsler Einl zum ProdHaftG Rz 45; KOM [00] 803 endg 6, einschr aber 9), interpretiert der EuGH die RL heute iS einer Vollharmonisierung (EuGH Slg 02, I-3856; I-3887; I-3905; 06, I-199 Rz 23, 33; I-1313 Rz 35; EuZW 09, 510 Rz 21; BeckRS 11, 81941 Rz 20; EuZW 15, 219 Rz 23). Eine solche erscheint allerdings aufgrund der Lückenhaftigkeit der RL sowie des gemeinschaftsrechtlichen Besitzstandes im Deliktsrecht nach wie vor kaum praktikabel (näher Schaub ZEuP 03, 562, 585 ff; ähnl EG-Kommission, KOM [06] 496 endg, 9; in Bezug auf die Lieferantenhaftung auch Entschließung des Rates, ABl 03, C 26/2; Whittaker ZEuP 07, 865 ff). Daher sollte bei der Auslegung des ProdHaftG so weit wie möglich auf das vom EuGH betonte autonome Haftungskonzept der RL rekurriert werden. Wo dies insb mangels einer eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Konzeption nicht möglich ist, sollten zweifelhafte Rechtsfragen nach Art 267 AEUV dem EuGH vorgelegt werden. Erst danach kommt ggf eine Lückenfüllung durch Anwendung der Regeln des BGB (dazu zB Erman/Wilhelmi ProdHaftG Vor § 1 Rz 6) in Betracht.
C. Inhalt.
I. Systematische Einordnung.
Rn 4
Im Ausgangspunkt erfordert die Haftung nach dem ProdHaftG ebenso wie diejenige nach der RL kein Verschulden. Str ist, ob es sich um eine an die Verletzung bestimmter Sorgfaltspflichten anknüpfende verschuldensunabhängige Haftung (zB Taschner/Frietsch § 1 Rz 2, 17 ff mwN; ähnl wohl Sieglitz Die Weiterentwicklung des deutschen Produkthaftungsrechts durch Einflüsse des US-amerikanischen Produkthaftungsrechts unter besonderer Berücksichtigung der Automobilindustrie 18, 62), eine Gefährdungshaftung (zB Erman/Wilhelmi Vor § 1 ProdHaftG Rz 2; Grüneberg/Sprau § 1 Rz 1; NK-BGB/Katzenmeier § 1 Rz 1 mwN), eine Mischform (zB Staud/Oechsler Einl zum ProdHaftG Rz 27 ff; MüKo/Wagner Einl ProdHaftG Rz 18 ff; Soergel/Krause ProdHaftG Vor § 1 Rz 5; Heinze Schadensersatz im Unionsprivatrecht 17, 385 ff, alle mwN; H Koziol AcP 2019, 376, 384 ff: Haftung von Importeur und Lieferant als Sicherstellungshaftung; krit zur Rechtsnaturdebatte Schlechtriem FS Rittner 545, 555 ff) oder gar eine Verschuldenshaftung (G Wagner VersR 20, 717, 726) handelt. Die Frage spielt eine Rolle für die Auslegung einzelner Vorschriften (zB des § 1 II Nr 5 oder des Fehlerbegriffs in § 3), denn nur bei Annahme einer Haftung für vermutetes Verschulden können auch individuelle Umstände in der Person des Herstellers berücksichtigt werden (s insb Larenz/Canaris § 84 VI 1; Staud/Oechsler Einl zum ProdHaftG Rz 28). Europäischer und deutscher Gesetzgeber wollten ursprünglich eine verschuldensunabhängig...