Leitsatz (amtlich)

Hat das Kind seinen tatsächlichen Aufenthalt im Sinne des § 87c Abs. 3 S. 2 SGB VIII seit seiner Inobhutnahme in einer Jugendhilfeeinrichtung im Zuständigkeitsbereich eines Jugendamts, während sein gewöhnlicher Aufenthalt bei seinen Eltern in einem anderen Jugendamtsbezirk mangels absehbarer Rückkehrperspektive in der Folge der Inobhutnahme entfallen ist, so ist für die Pflegschaftszuständigkeit des Jugendamts der tatsächliche Aufenthalt des Kindes im Bezirk der Einrichtung maßgeblich, ohne dass dieser bereits zu seinem gewöhnlichen Aufenthalt geworden sein muss.

 

Tenor

1. Auf die Beschwerde des weiteren Beteiligten zu 1. wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - in Saarbrücken vom 21. Februar 2023 - 128 F 384/22 EASO - teilweise dahin abgeändert, dass als Pfleger das Kreisjugendamt N. ausgewählt wird.

2. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erhoben; den Beteiligten zweitinstanzlich entstandene notwendige Aufwendungen werden nicht erstattet. Für die erste Instanz bewendet es bei der Kostenentscheidung des Familiengerichts.

3. Der weiteren Beteiligten zu 2. wird für die Beschwerdeinstanz - allerdings beschränkt auf einen Wert der anwaltlichen Tätigkeit von 1.000 EUR - mit Wirkung vom 3. Mai 2023 ratenfreie Verfahrenskostenhilfe unter gleichzeitiger Beiordnung von Rechtsanwältin L., S., bewilligt.

 

Gründe

I. Aus der Ehe der weiteren Beteiligten zu 2. (fortan: Mutter) mit dem weiteren Beteiligten zu 3. (Vater) ging am 10. Oktober 2008 u.a. die beteiligte Tochter M. hervor.

M. wurde am 28. September 2022 - aufgrund des aufgekommenen Verdachts ihres schweren sexuellen Missbrauchs durch den Vater - vom Sozialen Dienst des Jugendamtes des Regionalverbandes S. (weiterer Beteiligte zu 4.; künftig: Sozialer Dienst) in Obhut genommen und in einer Wohngruppe in N. untergebracht, wo sie seitdem lebt. Zum 28. März 2023 wurde die Inobhutnahme in eine reguläre Hilfe zur Erziehung umgewandelt; die bis dahin angedachte Unterbringung M.s in einer anderen, spezialisierten Wohngruppe konnte nicht umgesetzt werden, sodass M. nunmehr dauerhaft in der Wohngruppe in N. bleiben soll.

Im vorliegenden Verfahren hat das Familiengericht den Eltern nach mündlicher Erörterung durch die angefochtene einstweilige Anordnung vom 21. Februar 2023, auf die Bezug genommen wird, vorläufig das Aufenthalts- und das Umgangsbestimmungsrecht für M., das Recht zu ihrer Vertretung im Strafverfahren gegen den Vater wegen Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs, die Gesundheitssorge sowie das Recht, Anträge nach den Sozialgesetzbüchern für sie zu stellen, entzogen, und diese Sorgeteilbereiche dem Jugendamt des Regionalverbandes S. (weiterer Beteiligter zu 1., im Weiteren: Amtspfleger) als Pfleger übertragen.

Allein gegen diese Bestellung zum Pfleger wendet sich der Amtspfleger mit seiner Beschwerde. Er erstrebt, dass das Kreisjugendamt N. (weiterer Beteiligter zu 5; im Folgenden: übernahmebereites Jugendamt) zum Pfleger bestellt wird, weil M. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dessen Zuständigkeitsbezirk habe, da sie seit ihrer Inobhutnahme in einer Wohngruppe in N. lebe.

Das übernahmebereite Jugendamt hat sein Einverständnis mit einer Übertragung der Pflegschaft erklärt und ist - wie auch der Verfahrensbeistand, beide Eltern und der Soziale Dienst - dem Rechtsmittelpetitum beigetreten. Das beteiligte Kind hat sich zweitinstanzlich nicht geäußert.

Beide Eltern suchen ferner jeweils um Verfahrenskostenhilfe für die Beschwerdeinstanz nach.

II. Die Beschwerde des Amtspflegers - durch die lediglich dessen Auswahl als solcher zur Überprüfung des Senats gestellt ist (siehe dazu Senatsbeschlüsse vom 15. März 2023 - 6 UF 22/23 -, vom 4. November 2022 - 6 UF 130/22 -, vom 22. November 2021 - 6 UF 145/21 -, vom 28. September 2021 - 6 UF 126/21 -, vom 12. April 2021 - 6 UF 42/21 - und vom 13. März 2019 - 6 UF 12/19 -; Beschluss des 9. Zivilsenats des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 7. September 2017 - 9 UF 42/17 -; vgl. auch BGH FamRZ 2012, 292) -, ist nach §§ 58 ff. FamFG zulässig; insbesondere ist der Amtspfleger nach § 59 Abs. 1 FamFG beschwerdeberechtigt, weil er durch seine Bestellung zum solchen für das beteiligte Kind in seiner eigenen Rechtsstellung betroffen wird (siehe dazu Senatsbeschlüsse a.a.O. m.w.N.).

Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.

Zwar ist die durch das Familiengericht vorgenommene - allerdings nicht mit einer Begründung versehene - Auswahl eines Jugendamtes als Ergänzungspfleger nicht zu beanstanden. Denn Anhaltspunkte dafür, dass andere Verwandte M.s als Pfleger zur Verfügung stehen könnten (siehe zum sog. Verwandtenprivileg § 1778 Abs. 2 Nr. 1 BGB; vgl. auch - zu § 1779 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. - BVerfG, FamRZ 2012, 938; BGH, FamRZ 2013, 1380), wurden nicht vorgebracht und sind auch sonst in dem zunächst Eilrechtsschutz gewährenden Verfahren nicht zutage getreten.

Indessen bedarf die vom Familiengericht - ebenfalls ohne Begründung - getroffene Auswahl des Jugendamts des Regionalverbandes S. - wie vom ...

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