Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterbringung eines Minderjährigen: Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit bei Fortdauer der Unterbringung
Leitsatz (amtlich)
1. Das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG strahlt intensiv auf die Auslegung von § 1631b BGB aus und stellt um so höhere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der geschlossenen Unterbringung eines Kindes, je länger diese andauert. In die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch die Frage einzubeziehen, ob zu erwarten ist, dass das Kind im Rahmen der geschlossenen Unterbringung erzieherisch erreicht werden kann.
2. Ein langjährig in der Heimerziehung tätiger Psychologe ist gem. § 167 Abs. 6 S. 2 FamFG als Sachverständiger im Verfahren nach § 1631b BGB qualifiziert, wenn in dessen Rahmen nicht psychiatrische, sondern pädagogische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; BGB § 1631b; FamFG § 167 Abs. 6 S. 2
Verfahrensgang
AG (Beschluss vom 20.11.2009; Aktenzeichen 2 F 424/09 UB) |
Tenor
1. Die Beschwerde des betroffenen Kindes gegen den Beschluss des AG - Familiengericht - in Saarbrücken vom 20.11.2009 - 2 F 424/09 UB - wird zurückgewiesen.
2. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erhoben, die notwendigen Aufwendungen der Beteiligten im Beschwerdeverfahren nicht erstattet.
3. Verfahrenswert des Beschwerdeverfahrens: 3.000 EUR.
Gründe
I. Der heute 16 Jahre alte M. ging - wie seine beiden in den Jahren 1990 und 1991 geborenen Schwestern - aus der geschiedenen Ehe der Beteiligten zu 1) mit dem Kindesvater hervor. Die Mutter hat die alleinige elterliche Sorge für M. inne. Sie ist wieder verheiratet und hat mit ihrem zweiten Ehemann vier gemeinsame Kinder, die bei ihr leben.
M. wuchs unter massiv eingeschränkten und belasteten frühkindlichen Entwicklungsumständen auf. Bereits im frühen Grundschulalter zeigte er Verhaltensstörungen; er schwänzte die Schule und war auch über Nacht aus der Familie abgängig. Er akzeptierte keine Regeln, Grenzen und Autoritäten und war erzieherisch kaum erreichbar.
Im September 2003 wurde er im P. haus [Ort N.] untergebracht, wo eine zusätzliche 30%ige Stützkraft eingesetzt werden musste, da M. den Rahmen der normalen pädagogischen Betreuung sprengte. Wegen eigen- und fremdgefährdenden Verhaltens wurde M. im Oktober 2005 von der Einrichtung B. und B. in [Ort O.] aufgenommen. Er sollte dort zunächst eine drei- bis viermonatige Intensivmaßnahme auf dem Binnenschiff "N." durchlaufen und danach in eine Wohngruppe der Einrichtung wechseln. Bereits nach vier Wochen war M. nicht mehr an Bord zu halten, weswegen er in eine vierwöchige Einzelmaßnahme nach [Ort P.] verbracht wurde, die von einem Pädagogen der Einrichtung begleitet wurde. Nach seiner Rückkehr nach [Ort O.] lief M. im Januar 2006 weg und zu seiner Mutter nach [Ort S.]. Aufgrund des Hinweises des Jugendamts an diese und M., dass andernfalls die geschlossene Unterbringung von M. beantragt werde, konnte dieser nach [Ort O.] zurückgebracht werden. Da er für jüngere Kinder gefährlich war, wurde er in einer Gruppe mit vorwiegend älteren Jugendlichen untergebracht und erhielt zusätzlich Einzelbetreuung mit dem Ziel einer Rückkehr auf das Binnenschiff. Eine Beurlaubung über Ostern 2006 bei seiner Mutter verlief nach deren Schilderung katastrophal; M. habe sie und die übrigen Familienmitglieder übelst beschimpft, Diebstähle begangen und Sachen zerstört. M. lebte sich danach gut in die Gruppe ein, zeigte sich zugänglicher und reagierte auf klare pädagogische Maßnahmen. Allerdings kam es immer wieder zu "Ausrastern" wie körperlichen Übergriffen auf Pädagogen und Lehrer, was sich nachfolgend häufte, so dass die Mutter am 12.7.2006 die Genehmigung der geschlossenen Unterbringung von M. beantragte.
Nach Vorlage eines am 6.7.2006 ausgestellten Attests des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. K., der M. eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens bescheinigte, genehmigte das Familiengericht mit vorläufiger Anordnung vom 19.7.2006 - 2 F 268/06 UB - die beantragte geschlossene Unterbringung einstweilen bis zum 29.8.2006. M. wurde in der Kinder- und Jugendpsychiatrie [Ort P.-A.] untergebracht. Im Oktober 2006 ging M. erneut an Bord der "N.", wo er bis Ende Januar 2007 verbleiben sollte. Am 24.1.2007 war er von dort abgängig, kehrte zu seiner Mutter zurück und weigerte sich mehrfach, zur "N." zurückzugehen. Am 22.3.2007 kehrte M. freiwillig in die Kinder- und Jugendpsychiatrie [Ort A.] zurück, wo er am 1.5.2007 entlassen wurde. Am 10.5.2007 ging er dorthin zurück. Bei einer Anhörung beim Familiengericht zeigte sich M. einsichtig. Von der Einrichtung B. und B., in die er daraufhin erneut wechselte, wurde er am 20.6.2007 in die Inobhutnahmestelle in [Ort D.] verbracht. Eine ab dem 16.7.2007 für ein Jahr geplante, vom C. werk [Ort Ob.] getragene erlebnispädagogische Auslandsmaßnahme in [Ort P.] kam erst ab Oktober 2007 zustande. Nach seiner Rückkehr im Jahr 2008 wurde M. wegen eines Alkoholexzesses (AAK 1,2 -) mit Gewaltausb...