Leitsatz (amtlich)

1. Nach Änderung des § 7 Abs. 2 StVG durch das Zweite Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften ist bei Verkehrsunfällen mit Beteiligung von Kraftfahrzeugen und erwachsenen, nicht hilfsbedürftigen Radfahrern ein vollständiger Haftungsausschluss nur noch in besonderen Einzelfällen möglich, insbesondere dann, wenn der einfachen Betriebsgefahr des Kraftfahrzeughalters ein grob verkehrswidriges Verhalten des Radfahrers gegenübersteht.

2. Grobes Fehlverhalten in diesem Sinne ist z.B. ohne weiteres gegeben, wenn ein wartepflichtiger Radfahrer blindlings und ohne Halt aus einem Feldweg auf eine Landstraße einbiegt (Bestätigung des OLG Saarbrücken. v. 24.?04.2012? 4 U 131/11-40-, NJW 2012, 3245 ff.).

 

Verfahrensgang

LG Saarbrücken (Urteil vom 24.01.2012; Aktenzeichen 4 O 262/09)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird unter Zurückweisung des weiter gehenden Rechtsmittels das Urteil des LG Saarbrücken vom 24.1.2012 (Aktenzeichen 4 O 262/09) abgeändert:

Die Klage ist dem Grunde nach mit einer Haftungsquote der Beklagten zu 2 und 3 als Gesamtschuldner i.H.v. 1/3 und einer Mithaftung der Klägerin i.H.v. 2/3 gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 2 und 3 gesamtschuldnerisch nach Maßgabe einer Haftungsquote von 1/3 und einer Mithaftung der Klägerin von 2/3 verpflichtet sind, der Klägerin alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus dem Verkehrsunfall vom 10.1.2008 noch entstehen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind.

2. Die Entscheidung im Übrigen bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

A. Die am ... 1971 geborene Klägerin befuhr am 10.1.2008 gegen 14 Uhr mit ihrem Fahrrad (Mountain Bike) Stevens S 6 Pro den Fahrradweg aus Richtung W. in Richtung B.. An der Einmündung in die L 212 bog sie in diese nach links Richtung I. ein. Von dort kam ihr der von dem früheren Beklagten zu 1 als Zivildienstleistendem geführte Lkw Ford Transit des Beklagten zu 2 mit dem amtlichen Kennzeichen entgegen, der bei der Beklagten zu 3 haftpflichtversichert ist. Bei der anschließenden Kollision mit diesem Lkw wurde die Klägerin verletzt. Sie erlitt einen Riss der Aorta, Hirnblutungen, ein Magenwandhämatom, eine Verletzung des Wadenbeinnervs mit anschließender Zehenkrallenbildung, eine Rippenserienfraktur links mit Hämatomthorax, einen Beckenbruch, eine Hüftgelenksfraktur, einen Bruch des Schambeins, einen Bruch des rechten Schienbeinkopfes, einen Unterschenkelbruch links, Prellungen und Hämatome im Bereich der linken Niere, eine bimalleoläre OSG-Luxationsfraktur rechts, eine Schrumpfblase, eine Kondylenfraktur Femur rechts, Stuhlinkontinenz, eine Lungenquetschung und eine Knöchelfraktur. Vom 10.1.2008 bis zum 5.3.2008 befand sich die Klägerin auf der Intensivstation des Universitätsklinikums des Saarlandes und wurde anschließend in das Median-Reha-Zentrum Klinik B.-L. verlegt. Vom 26.8.2008 bis zum 1.9.2008 befand sie sich erneut in stationärer Behandlung zur Beseitigung der Sehnenverklebung, die allerdings nicht vollständig beseitigt werden konnte.

Die Klägerin hat gemeint, der Unfall sei für sie unabwendbar gewesen. Sie hat behauptet, sie selbst könne sich nicht mehr an den Unfall erinnern. Sie habe an der Einmündung zur L 212 die Straße überquert und anschließend die Straße in Richtung I. befahren. Als sie sich bereits vollumfänglich und parallel zum Straßenrand rechts eingeordnet gehabt habe, sei sie mit dem entgegenkommenden Lkw kollidiert. Der Lkw habe sich aus Sicht des Fahrers vollständig auf der linken Fahrbahnhälfte befunden und den Bremsvorgang erst nach der Kollision eingeleitet. Die Sicht des Beklagten zu 1 sei nicht beeinträchtigt gewesen, er hätte die Klägerin lange vor Erreichen des Radwegs erkennen können. Hätte der Beklagte zu 1 mit dem Lkw die rechte Fahrspur eingehalten bzw. rechtzeitig reagiert, wäre der Unfall für ihn vermeidbar gewesen. Die Verletzungen der Klägerin an Aorta, Becken und im Schambereich ließen keinen anderen Schluss zu, als dass sie frontal mit dem Lkw zusammengestoßen sei. Die Klägerin hat ein Schmerzensgeld i.H.v. 80.000 EUR für angemessen erachtet. Dazu hat sie behauptet, infolge des Unfalls sei es ihr nicht mehr möglich, zu joggen bzw. ausgedehntere Wanderungen zu unternehmen. Fahrradfahren sei nur mit Einschränkungen möglich bei Fixierung des Fußes am Pedal. Außerdem habe sie in beiden Beinen und im Bereich der Rippen immer noch Schmerzen. Sie habe eine irreversible Sehnenverkürzung erlitten mit der Folge einer Krallenzehenbildung der ersten und zweiten Zehe des rechten Fußes. Das Taubheitsgefühl im linken Oberschenkel werde ebenso wie die Veränderung der Stimme auf Dauer bleiben. Beide Beine wiesen Entstellungen auf, die Knochen wölbten sich teilweise deutlich sichtbar unter der Haut. Ferner habe sie extrem entstellende Narben am gesamten Körper, und die breite Narbe vom Rücken bis zur Brust enge zudem den Bewegungsradius im Oberkörper ein. Da der k...

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