Leitsatz (amtlich)

Ist eine Behandlung mit einem bislang nicht zugelassenen Heilmittel - Hitzeschockproteine bei ALS - grundsätzlich medizinisch nachvollziehbar, haftet ihr aber dennoch Versuchscharakter an, so können bei einem infausten Stadium des Leidens geringere Anforderungen an die Möglichkeit einer Linderungswirkung gestellt werden.

 

Normenkette

VVG § 192; MB/KK 2009 § 1 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Saarbrücken (Urteil vom 17.12.2015; Aktenzeichen 14 O 247/15)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Verfügungsklägers wird das Urteil des LG Saarbrücken vom 17.12.2015 - 14 O 247/15 - abgeändert.

Die Verfügungsbeklagte wird verurteilt, für die Dauer von längstens sechs Monaten ab Verkündung dieser Entscheidung dem Verfügungskläger sämtliche Aufwendungen zu erstatten, die diesem durch die Behandlung der bei ihm diagnostizierten ALS - bestehend aus einer wöchentlichen Injektionstherapie mit dem Produkt "Repamun plus" à 1 × 2 ml - entstehen. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

2. Die erstinstanzlichen Kosten tragen der Verfügungskläger zu ¾, die Verfügungsbeklagte zu ¼. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 18.967,60 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) leidende Verfügungskläger (im Folgenden: Kläger) macht im Wege der einstweiligen Verfügung Ansprüche auf Übernahme der Kosten der Behandlung mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel geltend.

Er unterhält bei der Verfügungsbeklagten (im Folgenden: Beklagte) einen privaten Krankenversicherungsvertrag (Vers.-Nr.: 530.006045420, Bl. 155 d.A.) dem die MB/KK 2009 (Bl. 43 ff. d.A.) zugrunde liegen.

Bei ALS handelt es sich um eine nicht heilbare degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, deren Verlauf durch eine fortschreitende, nicht reparable Schädigung von Nervenzellen gekennzeichnet ist, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind. Die hiermit verbundenen Lähmungen der Muskulatur führen zu Gang-, Sprech- und Schluckstörungen, eingeschränkter Koordination und Schwäche der Arm- und Handmuskulatur. Die Überlebenszeit beträgt im Mittel etwa drei bis fünf Jahre. Der Schwerpunkt der Therapie liegt auf einer Linderung der Symptome. Das zugelassene Arzneimittel Rilutek (Wirkstoff Riluzol) verspricht unstreitig lediglich eine Verlängerung der Lebenszeit von durchschnittlich etwa drei Monaten, kann das Voranschreiten der Erkrankung aber nicht aufhalten.

Die Erkrankung wurde bei dem Kläger im März 2014 in der Neurologischen Universitätsklinik der Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm diagnostiziert (Bl. 49 d.A.). Unter der Behandlung mit dem ihm verordneten Arzneimittel Rilutek verschlechterte sich die Allgemeinbefindlichkeit des Klägers nach eigenen Angaben rasch. Auf ärztliches Anraten der Frau Dr. med. N. G. unterzog sich Kläger ab Mai 2014 im Rahmen eines individuellen Heilversuchs einer intravenösen Antibiotikatherapie in Kombination mit einer "Biologischen Immuntherapie", bestehend aus "Ozon Sauerstoff und hochdosierten Vitamin C Infusionen in Kombination mit Hitzeschockproteinen" (Bl. 58 d.A.). Letztere wurden dem Kläger mit dem Produkt "Repamun plus" injiziert, das in Deutschland als Medizinprodukt für die äußere Anwendung am menschlichen Organismus zugelassen ist (Bl. 192 d.A.). Ziele der Hitzeschockproteintherapie sind eine Verbesserung der Lebensqualität und eine Verlangsamung des Krankheitsverlaufs. Die Kosten der Therapie trug der Kläger zunächst selbst. Die Beklagte lehnte mehrere Anträge auf Kostenübernahme - zuletzt mit Schreiben vom 16.12.2014 (Bl. 107 d.A.) - nach Einholung von Gutachten ab.

Mit dem vorliegenden Eilverfahren begehrt der Kläger, der mittlerweile in einer Pflegeeinrichtung als Beatmungspatient betreut werden muss, unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen seiner Ehefrau vom 19.4.2015 (Bl. 109 d.A.) und vom 17.11.2015 (Bl. 159 d.A.) die Verpflichtung der Beklagten, ihm ab sofort, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache die Kosten der von ihm gewählten Therapie zu erstatten.

Er hat behauptet, diese sei positiv verlaufen und habe zu einer signifikanten Zustandsverbesserung und einem verlangsamten Fortschreiten der Erkrankung geführt. Im April 2015 habe der Behandlungsversuch abgebrochen werden müssen, da seine Ersparnisse nach Zahlung der bisherigen Behandlungskosten in Höhe von 4.746,14 EUR aufgebraucht seien und er diese aus seinen laufenden Renteneinkünften von monatlich 2.100 EUR - nach Abzug von Miete in Höhe von 1.320 EUR und sonstigen Lebenshaltungskosten - nicht finanzieren könne. Ab dieser Zeit seien wieder ein beschleunigtes Fortschreiten der Erkrankung und eine Verstärkung der Symptome zu verzeichnen gewesen.

Seinen Antrag, ihm die Kosten des sich aus den Anlagen K03 und K04 ergebenden Therapieschemas zu erstatten, hat der Kläger auf gerichtlichen Hinweise dahin konkretisiert, dass

die Beklagte vorläufig ab sofo...

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