Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Einlegung eines Einspruchs durch eine in Kopie bei einem Dritten, nicht aber bei der Finanzbehörde angekommene E-Mail
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Praxis eines Finanzamtes, eingehende Mails auszudrucken und mit einem Posteingangsstempel zu versehen, ist, solange die Akten in Papier geführt werden, nicht zu beanstanden. Aus diesem Grund kann ein Zugang einer Mail nicht fingiert werden, wenn Einsprüche, die per E-Mail eingelegt werden, bei dem Finanzamt nicht bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens in elektronischer Form vorgehalten werden.
2. Die Versendung einer E-Mail an eine Finanzbehörde führt auch dann nicht zu einem Beweis des ersten Anscheins, dass die versandte Mail auch beim Empfänger eingegangen ist, wenn keine Rücksendung als unzustellbar eingegangen ist. Vielmehr hat der Versender den Zugang in der für den Empfang bestimmten Einrichtung nachzuweisen. Der Versender wählt die Art der Übermittlung und damit das Risiko, dass die Nachricht nicht ankommt. Zudem hat der Versender die Möglichkeit, durch Anforderung einer Lesebestätigung die Möglichkeit sicherzustellen, dass die Mail beim Adressaten ankommt (Anschluss an LAG Köln, Urteil v. 11.1.2022, 4 Sa 315/21).
3. Ein Zugang beim Empfänger einer Kopie einer Mail kann den Nachweis des Zugangs der Mail beim Adressaten nicht ersetzen.
4. Der Prozessbevollmächtigte durfte ohne Verschulden von einer fristgemäßen Absendung einer – im Übrigen richtig adressierten – E-Mail ausgehen, wenn er nach eigenem Bekunden und anwaltlicher Versicherung keinen Rücklauf der Mail als unzustellbar erhalten hat, die Adresse des Empfängers auf der Mail richtig war und die Mail in Kopie bei einem Dritten eingegangen ist. Ihm kann auch dann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn er von der Finanzbehörde als Empfängerin keine Lesebestätigung angefordert hat (Abgrenzung von der BGH-Rechtsprechung, wonach ein Rechtsanwalt im Kanzleibetrieb bei Nutzung der E-Mail-Korrespondenz die Kenntnisnahme empfangener Nachrichten durch die Anforderung einer Lesebestätigung sicherstellen muss, vgl. BGH, Beschluss v. 18.11.2021, I ZR 125/21).
Normenkette
AO § 87a Abs. 1 S. 2, § 110 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2, § 355 Abs. 1
Tenor
1. Die Einspruchsentscheidung vom 24. Januar 2022 wird aufgehoben.
2. Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
3. Die Revision wird zugelassen.
4. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Streitig ist, ob ein Einspruch per E-Mail fristgemäß bei dem Beklagten eingegangen ist, verneinendenfalls ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.
Mit Einkommensteuerbescheiden vom 8. August 2018 setzte das ursprünglich zuständige Finanzamt X die Einkommensteuer 2015 bis 2017 fest. Verschiedene Werbungskosten wurden nicht anerkannt. In der Rechtsbehelfsbelehrung wurde im Falle der elektronischen Einspruchseinlegung die Benutzung von „Mein Elster” empfohlen.
Mit E-Mail an die Poststelle des Finanzamtes X vom 10. August 2018 beantragte der Prozessbevollmächtigte die schlichte Änderung dieser Bescheide hinsichtlich der Anerkennung einer doppelten Haushaltsführung, Verpflegungsmehraufwendungen, Kosten der Berufsbekleidung, Fachliteratur und Bürobedarf wie erklärt. Diesen Antrag lehnte das Finanzamt X am 23. August 2018 ab, weil der Kläger eine finanzielle Beteiligung im Haushalt des Lebensmittelpunktes nicht nachgewiesen habe.
Am 31. Mai 2019 teilte ein Mitarbeiter des Prozessbevollmächtigten des Klägers, der Zeuge Herr Y, dem Finanzamt per E-Mail mit, er habe bei telefonischer Rücksprache im Finanzamt am 29. Mai 2019 gehört, dass kein Einspruch wegen Einkommensteuer 2015 bis 2017 vorliegen würde. Ein Vermerk über ein solches Telefonat findet sich nicht bei den Akten des Beklagten.
Im Anhang der Mail vom 31. Mai 2019 befand sich eine an die Poststelle@fa-X.smf.sachsen.de gerichtete E-Mail vom 30. August 2018 15.54 Uhr, mit der mit Unterschrift Z (dem Prozessbevollmächtigten) gegen die Bescheide 2015 bis 2017 Einspruch eingelegt und eine Begründung ankündigt wurde. Diese Mail wurde von der Adresse …@Z.com versandt. Im CC ist vermerkt „Y (Kanzlei Z)” (Blatt 110 Rechtsbehelfsakte).
Nachdem das Finanzamt X am 26. Juni 2019 mitteilte, der Einspruch sei nicht am 30. August 2018, sondern erst am 31. Mai 2019 zugegangen und eine Frist bis zum 24. Juli 2019 zur Stellungnahme setzte, teilte der Prozessbevollmächtigte per E-Mail am 12. Juli 2019 mit, er habe am 30. August 2018 fristgemäß per Mail Einspruch eingelegt. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Mail nicht zugegangen sei. Er habe die im Internet angegebene Mail-Adresse des Finanzamtes verwendet. Das Finanzamt müsse dafür Sorge tragen, dass die organisatorischen Abläufe im Finanzamt gewährleistet seien, damit Nachrichten tatsächlich in den z...