Entscheidungsstichwort (Thema)

Umkleidezeit als vergütungspflichtige Arbeitszeit. Ermittlung des erforderlichen Zeitanteils für das An- und Ablegen der Arbeitskleidung inklusive der Wegezeit im Betrieb. Schätzung des erforderlichen Zeitanteils durch das Gericht

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Vergütungspflichtig ist die Zeit, die für das An- und Ablegen der Arbeitskleidung und das Zurücklegen der damit verbundenen innerbetrieblichen Wege erforderlich ist.

2. Zur Ermittlung der Zeitspanne ist ein modifizierter subjektiver Maßstab anzulegen, denn der Arbeitnehmer darf seine Leistungspflicht nicht frei selbst bestimmen, sondern muss unter angemessener Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit arbeiten. "Erforderlich" ist nur die Zeit, die der einzelne Arbeitnehmer für das Umkleiden und den Weg zur und von der Umkleidestelle im Rahmen der objektiven Gegebenheiten unter Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit benötigt. Bei Ermittlung der erforderlichen Zeit gilt es, die Variablen des Umkleidevorgangs zu berücksichtigen. Hierzu gehört u. a. die Frage, welche Privatkleidung je nach Jahreszeit der Arbeitnehmer zuvor getragen hat (ebenso BAG, Urteil vom 26.10.2016 - 5 AZR 168/16 -, AP Nr. 49 zu § 611 BGB Arbeitszeit m. w. N.).

3. Steht fest (§ 286 ZPO), dass Umkleide- und Wegezeiten auf Veranlassung des Arbeitgebers entstanden sind, kann aber der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für den zeitlichen Umfang, in dem diese erforderlich waren, nicht in jeder Hinsicht genügen, darf das Gericht die erforderlichen Umkleide- und damit verbundenen Wegezeiten nach § 287 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO schätzen (vgl. BAG, a. a. O.).

 

Normenkette

BGB § 611 Abs. 1; ZPO §§ 286, 287 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

ArbG Leipzig (Entscheidung vom 09.02.2018; Aktenzeichen 3 Ca 2123/17)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Teilurteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 09.02.2018 - 3 Ca 2123/17 - teilweise abgeändert und die Klage, soweit über sie in diesem Teilurteil entschieden wurde, insgesamt abgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger; die erstinstanzliche Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil oder einer gleichwertigen Entscheidung zu den Kosten vorbehalten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsrechtszug noch darum, ob die unter Ausschöpfung der persönlichen Leistungsfähigkeit des Klägers erforderlichen Umkleidezeiten, mindestens jedoch sechs Minuten pro Umkleidung, vergütungspflichtige Arbeitszeiten sind.

Der am ...1964 geborene Kläger ist seit dem 22.07.1991 als Rettungsassistent tätig.

Er arbeitete zunächst für den ... e. V. Für diesen war er zuletzt in einer Rettungswache in ... tätig. Im Zuge der Ausschreibung des Rettungsdienstes zum Jahreswechsel 2013/2014 ging das Arbeitsverhältnis zum 01.01.2014 auf die Beklagte, die jetzige Arbeitgeberin des Klägers, über.

Während der mit RTW, KTW und NEF bezeichneten Dienste ist der Kläger verpflichtet, eine persönliche Schutzausrüstung (PSA) bestehend aus Schuhen, Jacke, Weste und Hose zu tragen. Ein Qualitätsmanagement-Handbuch vom 12.06.2013 enthielt u. a. die Regelung, dass die Arbeitskleidung erst in der Wache angelegt werden dürfe. Nach einem Hygieneplan war festgelegt, dass das Umkleiden bei der Arbeit und im Umkleideraum stattzufinden habe. In einem Qualitätsmanagement-Handbuch vom 06.10.2014 ist eine entsprechende Verpflichtung nicht mehr enthalten.

Bei seiner Einstellung sowie in späteren Unterweisungen war der Kläger darauf hingewiesen worden, dass die PSA nicht zu Hause gereinigt werden dürfe und grundsätzlich am Dienstort angezogen werde. Den Mitarbeitern wurde das Fahren mit angelegter Dienstkleidung im privaten Pkw untersagt.

Der Kläger hat erstinstanzlich behauptet, der Umkleidevorgang dauere im Durchschnitt jeweils sechs Minuten. Bei den Umkleidezeiten handele es sich um vergütungspflichtige Arbeitszeiten, die dem für ihn geführten Arbeitszeitkonto gutzuschreiben seien.

Der Kläger hat - soweit für dieses Berufungsverfahren von Relevanz - erstinstanzlich beantragt,

festzustellen, dass die unter Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit erforderlichen Umkleidezeiten (Berufskleidung), mindestens jedoch sechs Minuten pro Umkleidung, vergütungspflichtige Arbeitszeiten sind.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Umkleidezeiten seien nicht zusätzlich zu vergüten. Es gebe jedenfalls aktuell keine Anweisung der Geschäftsleitung an den Kläger oder andere Mitarbeiter, die Dienstkleidung ausschließlich an der Arbeitsstelle an- bzw. auszuziehen. Zudem sei vom Kläger nicht dargelegt worden, dass er die Kleidung regelmäßig am Arbeitsort an- und wieder ausgezogen habe. Jedenfalls sei die vom Kläger angesetzte Dauer von sechs Minuten zu lang. Ein Umkleidevorgang dauere etwa 181 bis 194 Sekunden.

Der pauschale Ansatz von sechs Minuten pro Umkleidevorgang sei unzulässig. Der Kläger könne sich nicht auf § 287 ZPO stützen, weil er insbesondere zum Faktor Zeit keine Anknü...

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