Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausgleichsansprüche des Betriebsratsmitglieds nach § 37 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 6 BetrVG. "Deckelungswirkung" des § 37 Abs. 6 BetrVG
Leitsatz (amtlich)
Die in § 37 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BetrVG geregelte Einbeziehung der Arbeitsbefreiung nach Absatz 2 des § 37 BetrVG gilt für Ausgleichsansprüche nach Absatz 3 BetrVG entsprechend. Auch diese sind in die Berechnung des Umfangs des Ausgleichsanspruchs einzubeziehen, wenn an einem Tag sowohl Betriebsratsarbeit als solche als auch Schulungs- und/oder Reisezeiten außerhalb der Arbeitszeit des Betriebsratsmitglieds angefallen sind.
Leitsatz (redaktionell)
Der Gesetzgeber hat mit Rücksicht auf die Interessen der Arbeitgeber und zur Vermeidung einer Bevorteilung der Betriebsratsmitglieder mit § 37 Abs. 6 Satz 2 BetrVG eine Kappung des Ausgleichsanspruchs angeordnet durch Vergleich mit der Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers. An allen Tagen, an denen das Betriebsratsmitglied sowohl Anspruch auf Arbeitsbefreiung und einen Ausgleichsanspruch für Betriebsratstätigkeit und darüber hinaus einen Ausgleichsanspruch für Schulungszeiten inkl. Pausen- und Reisezeiten hat, "deckelt" § 37 Abs. 6 Satz 2 BetrVG diese Ansprüche in analoger Anwendung auch für § 37 Abs. 2 und Abs. 3 BetrVG.
Normenkette
BetrVG § 37 Abs. 6; GRCh Art. 31 Abs. 2; EGRL 2008/88 Art. 2 Nrn. 1-2; BetrVG § 37 Abs. 2-3, § 78 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Chemnitz (Entscheidung vom 21.01.2021; Aktenzeichen 11 Ca 1406/20) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz vom 21.01.2021 – 11 Ca 1406/20 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Ansprüche des Klägers auf Freistellung von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung aufgrund von Schulungs- und Reisezeiten, die im Zusammenhang mit seiner Betriebsratsmitgliedschaft angefallen sind sowie für Betriebsratstätigkeiten als solche. Im Streit steht insbesondere (aber nicht nur) die Frage, ob § 37 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 BetrVG die Ausgleichsansprüche auch für vollzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder begrenzt oder ob diese Regelung nur für teilzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder gilt.
Die Parteien sind seit August 2009 durch Arbeitsvertrag verbunden. Bei der Beklagten, die an 17 Standorten in 3 Ländern Filialen des Lebensmitteleinzelhandels betreibt, kommt ein Tarifvertrag zur Anwendung. Dieser sieht für Vollzeitbeschäftigte eine Wochenarbeitszeit von 38 Stunden vor. Für den Kläger wird ein Arbeitszeitkonto geführt. Die Arbeitnehmer der Beklagten werden – soweit hier relevant - aufgrund von Dienstplänen bedarfsorientiert mit stark schwankenden Einsatzzeiten hinsichtlich Beginn, Ende und Dauer der jeweiligen Schichten eingesetzt. Es besteht weiterhin eine Dienstreiserichtlinie mit folgenden Definitionen einer Dienstreise:
„Eine berufliche Auswärtstätigkeit (Dienstreise) liegt vor, wenn der Arbeitnehmer (AN) vorübergehend außerhalb seiner Wohnung und nicht an seiner ersten Tätigkeitsstätte (ETS) tätig wird.
Eine Dienstreise beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem der AN sich auf Reisen begibt und endet mit dem Moment, zu dem er entweder an seine erste Tätigkeitsstätte oder zu seiner Wohnung zurückkehrt. Begibt sich der AN unmittelbar von seiner Wohnung aus auf Reisen (ohne vorher an seiner ersten Tätigkeitsstätte zu erscheinen), so beginnt die Dienstreise mit Verlassen der Wohnung.“
Wegen des weiteren Inhalts der Dienstreiserichtlinie wird auf die Anlage K3, Bl. 10 f d.A., Bezug genommen.
Der als Kaufmann vollzeitbeschäftigte Kläger ist Mitglied des bei der Beklagten in der Filiale B. gebildeten Betriebsrats. In den Zeiträumen … 2019 bis … 2020 nahm der Kläger an Betriebsratsschulungen in L (… 2019) und C (… 2020) wie folgt teil (zusammenfassende Darstellung der tabellarische Auflistung im Schriftsatz vom 28.10.2020, Seite 2 ff; BI. 41 bis 43 d.A. sowie der Auflistung im Schriftsatz vom 28.04.2021, dort Seite 4 ff, Bl. 94 ff d.A.):
…
Die vom Kläger angegebenen Zeiten für den … (5,58 Stunden) wurden dabei im geltend gemachten Umfang berücksichtigt. Im Übrigen hat die Beklagte die Zeiten jeweils auf 7,6 Stunden pro Tag gekürzt.
Mit der am 06.08.2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen, der Beklagten am 13.08.2020 zugestellten Klage machte der Kläger zunächst die Zahlung von 183,25 Euro brutto für 8,46 Stunden aus November 2019 geltend, die die Beklagte nicht als Zeitguthaben dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben hatte. Mit Klageerweiterung vom 28.10.2020, zugestellt am 05.11.2020, begehrte der Kläger die Zahlung weiterer 339,74 Euro brutto für die im Juni 2020 angefallenen nicht gutgeschriebenen Zeiten.
Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten,
ihm stehe ein Ausgleichsanspruch für sämtliche durch die Betriebsratstätigkeit, die Schulungen und die Fahrten angefallenen Stunden zu. Insbesondere die Reisezeiten seien wie vergütungspflichtige Arbeitszeit anzusehen, denn Reisezeiten, die aufgrund der Mandatsausübung anfallen, seien m...